Deutsche Tagespost, 30. Juli 1991
Zu Thesen des sogenannten Reformflügels der CDU/ Von Elisabeth Motschmann
Immer wieder fordert der „Reformflügel“ der CDU die Partei mit provozierenden Thesen heraus. Auch die diesjährige Sommerpause wird genutzt, um Grundwerte der Partei zur Diskussion zu stellen.
Es ist ohne Frage ein positives Zeichen und Ausdruck geistiger Lebendigkeit, wenn in einer großen Volkspartei kontrovers und engagiert um politische Positionen gerungen wird. Auffallen muß lediglich die Tatsache, daß die Denkanstöße und Ideen stets von einer bestimmten Seite kommen, während die andere Seite oft nur noch die Kraft aufbringt zu reagieren. In der Öffentlichkeit entsteht dadurch der Eindruck, daß sich der progressive Flügel der Partei, unter anderem vertreten durch Bundestagspräsidentin Süssmuth und den Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Arbeitnehmer, Fink, in der Offensive befindet, während die wertebewahrende Mehrheit der Parteimitglieder in der Defensive bleibt.
Vielleicht fürchtet man, ein Bild der Zerstrittenheit abzugeben und hat sich deshalb Zurückhaltung auferlegt. Vielleicht möchte man lieber hinter verschlossenen Türen diskutieren, um kein „Sommertheater“ zu inszenieren. Beides kann man verstehen. Ob diese „Harmoniedemonstration“ nach außen vom Bürger verstanden und vom Wähler honoriert wird, muß jedoch bezweifelt werden. Der Zugewinn einiger liberaler Wähler ist sicherlich ein erstrebenswertes Ziel. Wenn darüber treue Stammwähler ins Lager der Nichtwähler wechseln, geht die wahltaktische Rechnung nicht auf. Darum ist es notwendig, daß den „Reformern“ der CDU aus den eigenen Reihen widersprochen wird.
Rita Süssmuth und Ulf Fink wehren sich zeitgleich in verschiedenen Erklärungen gegen eine Verschärfung des Artikels 16 (Asylrecht) im Grundgesetz. „Wer bei ca. 400 000 Asylanten in unserem Land darüber stöhnt, das ‚Boot sei voll‘, verkennt zum einen die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, zum anderen die Dringlichkeit der Nöte dieser Welt“, schreibt Ulf Fink in einem Beitrag mit der Überschrift: „Die christliche Gesellschaftslehre birgt einen Schatz an realen Utopien“.
Rita Süssmuth empfiehlt den vielfach mißbrauchten Artikel 16 des Grundgesetzes auch anderen europäischen Nationen. Man kann sich über die Basisferne beider Politiker nur wundern. Der Asylmißbrauch und die hohe Beteiligung von Ausländern an der (Drogen)Kriminalität haben zu einem besorgniserregenden Ausländerhaß geführt. Hinzu kommt das wachsende Mißtrauen und die Angst der sozial Schwachen, daß ihnen durch die zunehmende Zahl von Asylanten und Asylbewerbern etwas genommen werden könnte.
Wer diese feindselige Haltung abbauen möchte, wird das Asylrecht mit aller Entschiedenheit für wirklich politisch Verfolgte eingegrenzt halten, so wie es das Grundgesetz formuliert: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Wer hingegen dafür eintritt, daß weiterhin Tor und Tür der Bundesrepublik offen stehen, auch für Asylbewerber aus Ländern, in denen es keine politische, rassische und religiöse Verfolgung (mehr) gibt, fördert – ob er es wahrhaben will oder nicht – den Ausländerhaß, der sich nicht nur gegen Asylanten oder Asylbewerber, sondern schließlich gegen alle Ausländer richtet. Wie dies mit der „christlichen Gesellschaftslehre“ in Einklang zu bringen ist, wird der engagierte Sozialpolitiker Fink ebenso erklären müssen wie Rita Süssmuth.
Rita Süssmuth hat einen weiteren Diskussionsgegenstand auf die politische Tagesordnung der Sommerpause gesetzt: die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Bundestagspräsidentin sagt zwar: „Eine Eheschließung wie zwischen Mann und Frau kann es für homosexuelle Paare nicht geben.“ Gleichzeitig fordert sie: „Wenn ein gleichgeschlechtliches Paar ein Leben lang füreinander sorgt, dann muß der Staat dies zum Beispiel im Hinterbliebenenrecht, bei der Rente und auch bei der Besteuerung berücksichtigen.“
Nachdenklich stimmt zunächst die Tatsache, daß Frau Süssmuth bei dieser äußerst sensiblen Frage die Befehlsform wählt: „… dann muß der Staat… berücksichtigen.“ Man wäre dankbar, wenn die Bundestagspräsidentin ihrerseits berücksichtigen würde, daß es sehr unterschiedliche Meinungen und Positionen zur Frage gleichgeschlechtlicher Ehen gibt – und das nicht nur in der CDU. Die apodiktischen Äußerungen von Rita Süssmuth erwecken den Eindruck, als stünde die Partei am Ende einer Diskussion. Dabei haben die Auseinandersetzungen um den Status von homophilen Lebensgemeinschaften gerade erst begonnen – jedenfalls auf der politischen Bühne.
Im übrigen stellt sich die Frage, welchen Sinn es hat, Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ zu stellen (Artikel 6 Grundgesetz), gleichzeitig aber jeder anderen Lebensgemeinschaft gleiche oder ähnliche Privilegien einzuräumen. Diese beabsichtigte Gleichstellung von Ehe und Familie mit eheähnlichen Beziehungen führt langfristig zur Gleichberechtigung von ehelichen und nichtehelichen Gemeinschaften. Das bedeutet eine endgültige Absage an den „besonderen“ Schutz von Ehe und Familie. Das bedeutet außerdem eine Abkehr von der christlichen Ethik. Auch wenn einzelne evangelische Pfarrer bereits homosexuelle Paare „trauen“ oder segnen, so entbehren diese spektakulären und medienwirksamen Amtshandlungen jeder biblischen Grundlage.
Die CDU steht bei dieser Diskussion wiederum vor der Frage, welche Bedeutung das „C“ im Parteinamen für sie (noch) hat. Wer sich auf das christliche Menschenbild sowie die christliche Wertordnung beruft, sollte diesem Grundsatz treu bleiben oder sich offen zu anderen Werten – etwa atheistischen oder sozialistischen – bekennen.
Die Väter des Grundgesetzes haben mit gutem Grund die „Verantwortung vor Gott“ in die Präambel aufgenommen. Wer in dieser Verantwortung steht, kann nicht gleichzeitig jeder Zeitgeistforderung nachkommen. Wir leben in einer orientierungsarmen, mitunter sogar orientierungslosen Zeit. Darum brauchen wir verbindliche Werte und Normen. Woher sollen diese kommen, wenn nicht aus dem Christentum?
Wenn wir auf Staaten blicken, die sich bewußt von allen christlichen Werten verabschiedet haben, dann zeigt sich, welche traurigen Konsequenzen das hat. Vierzig Jahre Sozialismus haben gerade uns Deutschen gezeigt, wohin eine nachchristliche Gesellschaft treibt. Politiker, die sich nur vor sich selbst und vor der Partei verantworten müssen, nicht aber in der Verantwortung vor Gott stehen, haben in der ehemaligen DDR menschenverachtende politische Entscheidungen getroffen. Wo christliche Werte außer Kraft gesetzt werden, geht jede Sensibilität für Recht und Unrecht verloren. Nicht nur das ehemalige SED-Regime, sondern auch eine allgemeine Orientierungslosigkeit im Westen sollten Warnung und Mahnung genug sein, daß ein Staat ohne eine verbindliche Wertordnung nicht auskommt.