DIE WELT, 16. Juli 1986
George Sand von heute
Mein wichtigstes Werk ist mein Leben, und das hervorragendste Erlebnis meines Lebens war die Begegnung mit Sartre.“ So hat Simone de Beauvoir sich selbst charakterisiert. Mit ihr verliert das…
…französische Geistesleben eine seiner farbigsten Gestalten, eine Schriftstellerin, die glaubwürdig an die von Madame Stael und George Sand begründete Literatur-Tradition anzuknüpfen verstand und ohne die der Pariser Existentialismus der Nachkriegsjahre nicht das geworden wäre, was er tatsächlich war.
Ihre Romane allein hätten genügt, sich einen Namen zu machen, angefangen mit „Sie kam und blieb“ von 1943, wo in raffinierter Weise eine Dreiecksgeschichte geschildert wird, über die berühmten „Mandarine von Paris“ bis zur „Welt der schönen Bilder“ von 1966. Hinzu kamen viele Essaybände, Erzählungen, Reisetagebücher. Aber ihr eigentlicher Erfolg war eine dicke Streitschrift, die gleich im Jahr ihres Erscheinens (1949) für Skandal und Ungemach sorgte: ,,La deuxième sexe “, „Das andere Geschlecht“, ein Buch, das später zur Bibel des Feminismus werden sollte.
Im „Anderen Geschlecht“ vertrat Simone de Beauvoir die Ansicht: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Mit dieser an sich pittoresken Aussage wollte sie deutlich machen, daß nicht die Natur, sondern die Kultur, die Erziehung ebenso wie gesellschaftliche Konventionen, dem Kinde seine männliche oder weibliche „Bestimmung“ aufoktroyierten.
Für Simone de Beauvoir war Mutterschaft nichts als „wahre Sklaverei“. „Aus diesem Grund würde ich einer jungen Frau raten, nicht Mutter zu werden“, sagte sie in einem weit beachteten Interview. Diese Haltung hat sie auch im politischen Alltag zum Ausdruck gebracht – durch Beteiligung an Demonstrationen von Frauen, die auf Plakaten verkündeten, sie hätten abgetrieben.
Doch nicht nur in dieser Frage gelang es Simone de Beauvoir, Wort und Tat in ihrem eigenen Leben ganz persönlich zu verwirklichen. „Die Ehe, das ist die größte Falle“, schrieb sie – und verwirklichte diese Einstellung, indem sie mit Jean-Paul Sartre fünfzig Jahre lang engstens verbunden war, ohne ihn zu heiraten oder mit ihm in herkömmlicher Weise zusammenzuwohnen. Sie nannte das eine „freie Verbindung“. „Wir haben eine sehr flexible Lebensweise, die uns manchmal erlaubt hat, unter demselben Dach zu leben, ohne ganz zusammen zu sein. Zum Beispiel, als wir sehr jung waren, da lebten wir im Hotelzimmer.“
Geistig war die Verbindung zu Sartre um so enger. Simone de Beauvoir übernahm sämtliche Positionen des Sartreschen Existentialismus und erklärte ihn zu einem „weiblichen Existentialismus“. Das Paar Sartre-Beauvoir ist zweifellos eines der bemerkenswertesten Paare der Geistesgeschichte, von manchem dem Paar Abälard und Heloise an die Seite gestellt.
Aus ihrer Ablehnung des Christentums auf der einen Seite und ihrer Sympathie zum Marxismus/Sozialismus auf der anderen hat Simone de Beauvoir, Tochter aus gutem, wohlbehütetem Hause und erfolgreiche Absolventin Pariser Eliteschulen, nie einen Hehl gemacht. Sie polarisierte und verstörte und hat viele fragwürdige Dinge gesagt und geschrieben. Doch auch ihre geistigen und politischen Gegner waren fasziniert von ihrem Lebens-Drive und von der Weite ihrer Persönlichkeit, nicht zuletzt auch von der Nonchalance, mit der sie das Altwerden ertrug.
„Wenn ich schlafe, wenn ich aufwache, wenn ich gehe, mich bewege, ein Buch lese – dann denke ich nie: Ich bin alt. Ich fühle mich ohne Alter“, schrieb sie einmal. 78jährig ist die A1terslose in Paris gestorben.
ELISABETH MOTSCHMANN