Traditionen sind wichtig. Sie sind sinn- und identitätsstiftend. Das ist keine Frage. Darum müssen Traditionen geschützt werden. Das gilt auch für die Schaffermahlzeit. Dennoch ist es gut, dass der verwaltende Vorsteher von „Haus Seefahrt“, Michael Schroiff, und die Bremer Gleichstellungsbeauftragte, Ulrike Hauffe, die Diskussion über die Teilnahme von Frauen an der Schaffermahlzeit im Sommer 2009 im Weser Kurier angestoßen haben. Es ist eine längst überfällige Diskussion in unserer „weltoffenen“ Handelsstadt. Denn jede Tradition ist immer auch dem Wandel unterworfen. Es ist auch notwendig, dass neue Traditionen geschaffen werden. Andernfalls wird man zum Nachlassverwalter. Enttäuschend ist nur, dass der Diskussion vom Sommer 2009 keine Taten im Winter 2010 gefolgt sind.
Wieder wird es unter den 300 Teilnehmern der Schaffermahlzeit am 12. Februar 2010 keine einzige Frau geben. Offenbar bleiben die Verantwortlichen bei ihrer Meinung: Das war immer so, das soll so bleiben.
In anderer Hinsicht waren die Schaffer in der fast 500-jährigen Geschichte dieses ältesten Brudermahls veränderungsfreudiger. Was die Kleidung anbetrifft, passten sich die Schaffer der jeweiligen Mode ihrer Zeit an. Der schwarze Frack führt keineswegs zurück in die Anfänge des Schaffermahls. Der schwarze Frack setzte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch.
1680 schilderte Karl H. Schwebe das Äussere eines Schaffers: „Breitkrempiger schwarzer Schlapphut, ein über die Achsel geworfenes kurzes Mäntelchen, langschössiger, weitärmeliger Wams aus blauem Tuch, weite kniefreie Schlumperhosen, weisse Strümpfe von feinster Seide, zierliche Halbschuhe mit mässig hohen Blockabsätzen, blütenweißes, spitzenbesetztes und am Ende zu bizarrer Schleife geschlungenes Halstuch und ebensolche Manschetten.“
Später bevorzugten die Schaffer den Gehrock usw. Was die Tradition der Kleidung anbetrifft, hat man sich vor Veränderungen nicht gescheut. Der Schlapphut und die kniefreien Schlumperhosen sind out, der Frack ist angesagt. Warum also Veränderungsbereitschaft in dieser Frage, nicht aber hinsichtlich der Einladung von Frauen? Die Schaffer vermitteln den Eindruck, dass sie veränderungsbereit sind, wenn es um Äußerlichkeiten (z.B.Kleidungerordnung) geht, sich aber zur Wehr setzen, wenn es um die wesentlichere Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen geht.
Kein Schaffer hat den Mut gehabt, eine Frau einzuladen. Auch Nils Stolberg, Chef der Beluga-Reederei, nicht. Das ist deshalb erstaunlich, weil er im Juli 2009 klare Worte in Richtung „Haus Seefahrt“ formulierte: „Meines Erachtens ist es zeitgemäß, darüber nachzudenken, auch weibliche Gäste einzuladen. Wenn man den Rahmen dahingehend aufbrechen würde, würde ich vorraussichtlich Sandra Maischberger als meinen persönlichen Gast einladen.“ Schade, dass er offensichtlich nur nachgedacht, nicht aber gehandelt hat. Es wäre doch möglich gewesen.
Michael Schroiff, der Vorsteher von Haus Seefahrt, hat am 7. Januar 2010 zum wiederholten Mal erklärt: „Da sind wir liberal. Wir behandeln Frauen und Männer absolut gleich.“ Mit der Liberalität jedoch scheint es nach wie vor nicht sonderlich weit her zu sein. Wieder bleiben die Frauen draußen. Oder denkt er an die Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Jahren oder an die eine Kapitänin, die auch schon einmal als „seemännisches Mitglied“ die Ehre hatte, eingeladen zu werden?
Wenn kein ehemaliger Schaffer und auch die Handelskammer der Tradition folgen und keine Frau einladen, so könnte man dafür noch Verständnis haben, wenn es auch sehr schwerfällt. Aber warum besitzt Bürgermeister Jens Böhrnsen nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun? Ist die Gleichberechtigung bei ihm doch noch nicht so ganz angekommen? Ist Gleichberechtigung für ihn nur ein Lippenbekenntnis? Schöne Worte allein reichen nicht, Herr Bürgermeister! „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“, steht schon in der Bibel.
Es ist enttäuschend für Frauen, dass der sozialdemokratische Bürgermeister darauf verzichtet, eine neue Tradition zu beginnen, indem er von seinem Vorschlagsrecht dahin gehend Gebrauch macht, Frauen auf die Gästeliste der Schaffermahlzeit zu setzen. Oder hat er Frauen vorgeschlagen, die von den Gremien, die darüber befinden, abgelehnt wurden? Dieser Affront gegen den Bürgermeister – sofern es ihn gab – wäre ein Zeichen mangelnder Akzeptanz von Jens Böhrnsen in Kreisen der Handelskammer.
Im übrigen ist der Bürgermeister Hausherr im Rathaus und damit verpflichtet, dafür zu sorgen, dass alles, was in den Räumen geschieht, dem Geist einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft zu entsprechen hat. Gralshüter vergangener, längst überholter Traditionen ist er sicherlich nicht. In jedem Fall fragt man sich, wie „weltoffen“ ist Bremen, sein Bürgermeister, die Gremien der Handelskammer und das „Haus Seefahrt“ wirklich?
Und falls niemandem einfällt, wen man einladen könnte: Wie wäre es mit der ersten Ministerpräsidentin Thüringens, Christine Lieberknecht, mit ersten Ratsvorsitzenden der EKD, Margot Käßmann, mit der ersten Intendantin des WDR, Monika Piel, mit einer Frau der Wirtschaft, Liz Mohn (Bertelsmann AG), mit der Verlegerin Friede Springer (Springer Konzern), mit einer der Bundesministerinnen etc. Würdige Vorschläge gäbe es genug. Man muss sie nur aufgreifen.
Traditionen dürfen nicht erstarren, nicht statisch werden. Sie müssen teilnehmen an Veränderungen der Zeit und nicht stehenbleiben. Glücklicherweise hat sich die Tradition, dass nur Männer aktives und passives Wahlrecht besitzen, vor 90 Jahren dahingehend verändert, dass auch Frauen dieses selbstverständliche Grundrecht eingeräumt wurde. Seitdem haben sich nahezu alle Bereiche in unserer Gesellschaft geöffnet für Frauen. Dabei galt es viele Widerstände zu überwinden. Und immer haben sich insbesondere Frauen für eine gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingesetzt. Männer waren an diesem Prozess auch – aber nicht an vorderster Front und in gleicher Weise – beteiligt.
Frauen haben für ihr Engagement in Sachen Gleichberechtigung zu allen Zeiten – und auch heute – Häme, Spott, Kritik und Unverständnis geerntet. Einige Frauenrechtlerinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert mussten sogar ins Gefängnis, weil sie sich öffentlich für die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht einsetzten. Angesichts der heutigen Situation sind dieser harte Kampf und der damit verbundene Weg fast vergessen. Dennoch gibt es nach wie vor Bereiche, die für Frauen (weitgehend) verschlossen sind. Dazu zählt nicht nur die Schaffermahlzeit – aber sie eben auch. Daran könnte sich jetzt etwas ändern. Das wäre wirklich wünschenswert.
Frauen sind trotz der beschriebenen Widerstände und Schwierigkeiten in die Vorstände großer Unternehmen, in Aufsichtsräte, sowie Spitzenpositionen in Politik, Verwaltungen, Wissenschaft, Medien, Gewerkschaften etc. ein- und aufgerückt. Leider sind es noch viel zu wenige Frauen, die diesen Sprung geschafft haben – aber es gibt sie.
Warum sollten diese Frauen, die alle Kriterien für eine Einladung ebenso oder sogar besser erfüllen wie Männer vor der Tür oder im Nebenzimmer bleiben, nur weil sie einem anderen Geschlecht angehören? All diese Frauen in verantwortlichen Positionen sind doch ebenso geeignet, ebenso würdig und interessant wie ihre männlichen Kollegen – oder etwa nicht? Gibt es noch jemand, der allen Ernstes den Standpunkt vertreten sollte, dass Frauen auf der Schaffermahlzeit nichts zu suchen haben, es sei denn am Katzentisch im Kaminzimmer? Wenn das der Fall sein sollte, dann würde ich gerne die Begründung kennen. Die Chromosomen allein können es ja wohl nicht sein.
Im 21. Jahrhundert ist der Ausschluss von Frauen bei solchen und vergleichbaren Anlässen ein Anachronismus. Die Schaffermahlzeit würde durch diese Öffnung, die mit der Bundeskanzlerin ihren Anfang genommen hat, weder an Bedeutung noch an Attraktivität verlieren. Oder war die Schaffermahlzeit mit Angela Merkel etwa ein Misserfolg? Wohl kaum! Im Gegenteil, diese alte Tradition wird durch die Teilnahme von Frauen lebendiger und interessanter, sie wird gewinnen: an Ansehen.
Bremen im Juli 2009
Der Beitrag wurde am 9. Januar 2010 von mir aktualisiert. Das Thema bleibt aktuell. Leider! Wiedervorlage Januar 2011