Rheinischer Merkur, 30. September 1988
Solidarität, die keinen Haß heraufbeschwört: Der Kampf gegen die soziale Not der schwarzen Südafrikaner verträgt keine Gewalt. Nötig sind Gebete und Geld.
Von Elisabeth Motschmann
Eine rote Plastikschüssel mit Wasser, daneben ein Handtuch über dem Zaun. Vor dem Haus der Familie Biko im südafrikanischen…
…King William‘s Town lerne ich afrikanische Sitte. „Es ist bei uns Brauch, daß man sich nach dem Besuch eines Grabes im Haus des Toten die Hände wäscht“, erklärt Nobandile Mvovo, die Schwester des schwarzen Bürgerrechtlers Bantu Stephen Biko, der vor elf Jahren in einem Polizeigefängnis ums Leben kam.
Nobandile Mvovo soll mich in die Elendsgebiete der Schwarzen in der Kapprovinz begleiten; ich hatte sie gebeten, an dem Friedhof zu halten, auf dem ihr Bruder begraben liegt – er starb am zwölften September 1977, dreißig Jahre alt. Vor wenigen Wochen, als die südafrikanische Regierung den Film „Cry Freedom“, Schrei nach Freiheit, erneut verboten hatte, wurden die Erinnerungen an den Bürgerrechtskämpfer – der Film thematisiert seinen gewaltsamen Tod – wieder wach. Trotzdem ist der Friedhof verwildert, wirkt das Grab verlassen und vergessen.
„Wir müssen Steve‘s Kampf für die Gleichberechtigung aller Südafrikaner fortführen, anstatt Bitterkeit oder Traurigkeit in uns aufkommen zu lassen“, sagt seine Schwester, die für die „Kindernothilfe Southern Africa“ arbeitet und Projekte betreut, in denen nicht nur Hunger und Unterernährung der schwarzen Kinder bekämpft werden, sondern eine Vorschulerziehung auch ihre Entwicklungsstörungen aufholen soll.
Im Haus der Bikos, einem jener barackenartigen „match-box-houses“, die bereits bescheidenen schwarzen Wohlstand signalisieren, wird Kritik an Sir Richard Attenboroughs Film laut. Zwar konnte keiner aus der Familie den Film sehen, doch sie haben genug darüber gehört und gelesen. Nie ist jemand von ihnen über Steve befragt worden. Wer aber sollte ihn besser kennen als seine Familie, mit der er aufgewachsen ist? „Es kann also nicht seine Lebensgeschichte sein“, bemerkt Nobandile Mvovo, „vielleicht ist es die politische Seite der Geschichte.“ Und möglicherweise nicht einmal die ganze. Khaja Biko, Steves Bruder – er ist im Erziehungsministerium eines Homelands tätig -‚ spricht aus, was alle Familienmitglieder denken: „Wir wollen und brauchen keine Revolution.“ Und er fügt hinzu: „Wir sind bereit zu vergeben, aber nicht zu vergessen.“
Auch nicht die Umsiedlungspolitik der weißen Regierung. Seit 1960 wurde die schwarze Bevölkerung in zehn sogenannte Schwarze Nationalstaaten abgeschoben beziehungsweise deportiert. Unter anderem nach Whittlesea, eines der Umsiedlungsgebiete im Inneren der Ciskei, des südlichsten Homelands. Mitten auf dem freien Feld stehen die Wellblechschuppen, meist nur mit einem einzigen Raum für die ganze Familie. Etwa 28 000 Menschen leben inzwischen in dieser kargen Gegend. Zwar gäbe es Platz genug, daß jede Familie zumindest Gemüse anbauen könnte, doch fehlt das dafür notwendige Wasser.
Erschreckend ist auch der Mangel an Arbeitsplätzen für die vielen Menschen. Gewiß, es gibt einige Nähereien, meist von Chinesen betrieben, doch die meisten arbeitsfähigen Männer und viele Frauen sind gezwungen, weit weg in die großen Städte, nach East London, Fort Elizabeth oder Kapstadt, zu ziehen, um Geld zu verdienen. Zurück bleiben die Alten und die Kranken, sehr junge Frauen und die Kinder. Wenn sie Glück haben, kommt der Vater, der Sohn, der Ehemann einmal im Jahr zu Besuch. Wie sollen da die Familien intakt bleiben? Wer soll den Mann ermahnen, regelmäßig Geld zu schicken? Viele Mütter warten vergeblich. Wenn dann keine Großmutter da ist, die mit ihrer Staatsrente, knapp sechzig Mark im Monat, hilft, ist nicht einmal für die Ernährung der Kinder gesorgt. ,,No man, no money, no milk“ charakterisiert eine der betroffenen Frauen müde ihre hoffnungslose Lage.
Nobandile Mvovo kennt die Situation: „Besonders in den ländlichen Gebieten leiden die Kinder sehr. Ich bin sicher, daß sie ohne die Unterstützung der ‘Kindernothilfe‘ völlig unterernährt wären. In den Tagesstätten erhalten die Kinder ausreichende und gesunde Nahrung, sie werden gut betreut, und wir beginnen auch, sie auf die Schule vorzubereiten.“
Finanziert werden diese Projekte von verschiedenen Kirchen und von der „Kindernothilfe Duisburg“. Dreißig der 62 Kinder der St. Joseph‘s Catholic School in Low Didimana haben Paten in der Bundesrepublik, die mit fünfzig Mark im Monat Ernährung und Erziehung der Drei- bis Sechsjährigen sichern. Die gesunde, vitaminreiche Kost, die biblischen Geschichten, die sie hören, die Verse, die sie lernen dürfen, machen die Kinder „reich“ in den Augen ihrer Kameraden.
Doch nicht nur die in den Familien übliche einseitige Ernährung mit gestampftem Mais stört die Entwicklung der Kinder, auch die mangelnde geistige Anregung hemmt. Schwarze südafrikanische Jungen und Mädchen kennen kein Spielzeug, keine Bilderbücher, und die Großmütter, in deren Obhut die meisten leben, haben kaum Zeit, um die Phantasie der Kleinen anzuregen. Die Kinderzeichnungen an der Wand des Gruppenraumes dokumentieren den Entwicklungsrückstand.
Verwahrloste, unterernährte Kinder auch in den schwarzen „townships“ Crossroads und Khayelitsha. In den vergangenen Jahren zogen immer mehr Frauen mit ihren Kindern aus den Homelands hierher, weil sie ihre Männer nicht elf Monate lang in der weit entfernten Stadt wohnen lassen wollten. Allzu viele Männer nahmen sich dort eine „Zweitfrau“. Die unehelich geborenen Kinder schickten sie dann zu ihren Familien in die Homelands.
Zunächst untersagten die Behörden den Frauen den Aufenthalt in den townships, aber die Frauen erhielten kirchliche Unterstützung, „denn die Kirchen predigen Anständigkeit und die Heiligkeit des Familienlebens“. Der farbige Bischof der Moravian Church, J. J. Ulster, kennt die Situation nur zu gut. Seiner Ansicht nach gibt es „kein Maß, mit dem wir das Elend der Kinder in Crossroads wirklich erfassen können“.
Wie sollte zwischen den erbärmlichen Bretter- und Wellblechverschlägen ein Kind gedeihen können? Die hygienischen Verhältnisse sind menschenunwürdig, von den zu wenigen Gemeinschaftstoiletten haben nicht einmal alle Wasserspülung. Auch die Wasserstellen, die meisten an den Rückwänden der Toilettenhäuschen, reichen nicht aus. Jetzt endlich, nach langen Auseinandersetzungen, hat sich die Regierung bereit erklärt, in Crossroads etwas für die Familien zu tun: Straßen und Häuser sollen gebaut, Kanalisation gelegt werden. Doch die geplanten Häuser berücksichtigen die wahren Bedürfnisse der Menschen nicht: Sie sind für die Großfamilien zu klein und für die meisten Interessenten zu teuer.
„Wenn die Kinder einer Nation im frühen Alter in der Entwicklung behindert werden, also Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren, dann ist wirklich die ganze Nation behindert“, äußert Nobandile Mvovo, die wie ihre Mitstreiter in der „Kindernothilfe“ davon überzeugt ist, daß sie „durch die Arbeit mit diesen Kindern die Zukunft der Schwarzen in Südafrika beeinflussen“.
Doch ohne Unterstützung von außen kann diese Arbeit nicht geleistet werden. Deshalb lehnen alle schwarzen und farbigen Gesprächspartner, die vor Ort gegen die soziale Not kämpfen, wirtschaftliche Sanktionen gegen Südafrika ab. Ellen Thobele, Lehrerin und Leiterin von zwei Tagesstätten in Benoni, sagt pragmatisch: „Sanktionen helfen niemandem. Nur Menschen, die selbst im Wohlstand leben und sich nicht vorstellen können, wie das Elend hier aussieht, können Sanktionen fordern.“
Bischof Ulster sieht drei Möglichkeiten, um von außen Einfluß auf Südafrika zu nehmen: zum einen durch Beten, daß es in den Herzen besonders der verantwortlichen südafrikanischen Politiker zu einem Wandel kommt und die schwarzen Kinder Gottes als ebenbürtig anerkannt werden – womit sie Raum für die Entwicklung all ihrer Fähigkeiten erhalten. Zum andern durch die finanzielle Unterstützung der schwarzen Kinder, denn ohne diese Mittel ist ein Entwicklungsprogramm nicht möglich. Und schließlich durch die unermüdliche Forderung, allen Einwohnern des Landes volles Stimmrecht zu gewähren. „Wir brauchen eine Solidarität, die keinen Haß heraufbeschwört und auch keine Gewalt.“
Verwahrloste, unterernährte Kinder: Keines der Wohngebiete für schwarze Südafrikaner hat genügend Häuser oder hygienische Einrichtungen. NobandileMvovo (oben), die Schwester des vor elf Jahren ermordeten Bürgerrechtlers Steve Biko, arbeitet für die „Kinderhilfe Südafrika“, ein Projekt, das auch von deutschen „Paten“ unterstützt wird.
Fotos: Kohl, Motschmann