Wir wollen und brauchen keine Revolution

Die Glocke, FEB. 2/89 43. Jg.

Hilfsprojekte für scharze Kinder in Südafrika

Von Elisabeth Motschmann

Südafrika – ein Land der wachsenden Unruhen zwischen Schwarzen und Weißen, ein Land der krassen Gegensätze zwischen reich und arm, Freiheit und erzwungener Abgrenzung. Nicht zuletzt wegen des Kinofilms „Cry Freedom“ (Der Schrei nach Freiheit) ist die Apartheidpolitik und das Schicksal des schwarzen Bürgerrechtlers Steve Biko, der 1977 gewaltsam umkam, wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.

Die Zukunft des schwarzen Südafrikas, das sind die Kinder. Wie aber leben sie, welche Möglichkeiten haben sie? Im Auftrag der „Kindernothilfe Duisburg“ besuchte Elisabeth Motschmann die Familie von Steve Biko, die engagiert in der „Kindernothilfe Southern Africa“ zusammen mit der deutschen Schwesterorganisation schwarzen Kindern hilft. Sie überzeugte sich von den Lebensbedingungen und den Hilfsprojekten der Organisation in einem der schwarzen Homelands, der Ciskei.

Hier ihr persönlicher Bericht.

Da Mrs. Mvovo mich in die Elendsgebiete der Schwarzen in der Kapprovinz begleiten sollte, hatte ich sie gebeten, an dem Friedhof anzuhalten, wo ihr Bruder Steve Biko begraben ist. Obwohl dieser durch das erneute Verbot des Films „Cry Freedom“ durch die südafrikanische Regierung wieder in aller Munde ist, wirkt sowohl der verwilderte Friedhof als auch das Grab selbst verlassen und vergessen.

„Wir müssen die Arbeit, für die Steve sich einsetzte, fortführen, anstatt Bitterkeit oder Traurigkeit in uns aufkommen zu lassen“, sagt seine Schwester, die für die „Kindernothilfe Southern Africa“ am Kap arbeitet und Projekte betreut, in denen gegen Hunger und Unterernährung schwarzer Kinder gekämpft wird und deren Entwicklungsstörungen durch eine Vorschulerziehung aufgeholt werden sollen.

Im Haus der Bikos, einem jener barackenartigen „match-box-houses“, die hier bereits bescheidenen „Wohlstand“ einer schwarzen Familie signalisieren, kommt es zu einem Gespräch mit der Familie. Keiner hatte bereits Gelegenheit, den Film über das Buch von Donald Woods zu sehen. Aber es wird Kritik geäußert:

„Keiner kennt Steve besser als wir hier. Wir, die wir mit ihm aufgewachsen sind, sind nie interviewt worden. Es kann also nicht seine Lebensgeschichte sein, vielleicht die politische Seite der Geschichte“, bemerkt Nobandile Mvovo. Trotz der leidvollen eigenen Erfahrungen mit dem südafrikanischen Regime lehnen alle anwesenden Familienmitglieder jede gewaltsame Veränderung ab.

„Wir wollen und brauchen keine Revolution. Es ist nur die Frage, wann und wie die Veränderungen realisiert werden“, erklärt Steves Bruder, Khaja Biko, der im Erziehungsministerium eines „homelands“ ‚ der Ciskei, tätig ist, und fügt hinzu: „Wir sind bereit, zu vergeben, aber nicht zu vergessen.“

WIR WOLLEN UND BRAUCHEN KEINE REVOLUTION

Von King William‘s Town führt uns der Weg ins Innere der Ciskei nach Whittlesea, eines der Umsiedlungsgebiete, „resettlement areas“. Aufgrund der Apartheidpolitik wurden seit 1960 Schwarze hierhin abgeschoben bzw. deportiert. Dabei handelt es sich vor allem um jene, die auf weißen Farmen gearbeitet haben oder in den Städten wegen ihrer Rassenzugehörigkeit nicht bleiben konnten oder durften.
Mitten auf dem freien Feld wurden und werden Häuser aus dem Boden gestampft, meist sind es lediglich Wellblechschuppen mit einem einzigen Raum, in dem eine ganze Familie leben muß. Heute leben etwa 28.000 Menschen in dieser Gegend. Hilflos sind sie ihrem Schicksal überlassen. Das Land ist karg und trocken. Es gibt viel zu wenig Arbeitsplätze für die vielen Menschen hier. So sind die arbeitsfähigen Männer und viele Frauen gezwungen, in die großen Städte, East London, Port Elizabeth oder Kapstadt zu ziehen, um Geld zu verdienen. Zurück bleiben Alte, Kranke, sehr junge Frauen und Kinder. Ihre Väter bzw. Männer oder Söhne sehen sie nur einmal im Jahr, meist im Monat Dezember. Unter der Voraussetzung, daß die Ehen trotz der Trennung intakt bleiben, darf die zurückbleibende Familie damit rechnen, Geld zugeschickt zu bekommen.

„Besonders in den ländlichen Gebieten leiden die Kinder sehr. Ich bin sicher, daß ohne die Hilfe der ‚Kindernothilfe‘ diese Kinder völlig unterernährt wären. Wo immer die ‚Kindernothilfe‘ in diesen Gebieten die Arbeit aufgenommen hat, ist die Unterernährung zurückgegangen. Unsere Kinder kommen in die Tagesstätte, sie erhalten dort ausreichende und gesunde Nahrung, sie werden gut betreut, und wir beginnen auch, sie auf die Schule vorzubereiten“, bemerkt Mrs.Mvovo.
Vier Tage fahren wir 1.500 km kreuz und quer durch die Ciskei und sehen uns sechs dieser ländlichen Projekte an. Finanziert werden sie zum einen von verschiedenen Kirchen, zum anderen von der Kindernothilfe Duisburg, die ihrer Partnerorganisation in Südafrika Gelder für die dortigen Einrichtungen und die darin lebenden Kinder überweist.

Die Kinder der St. Joseph‘s Catholic School in Lower Didimana begrüßen uns mit dem Lied: „I decided to follow Jesus“. Nicht nur das Lied signalisiert die Bedeutung christlicher Erziehung in allen Projekten
Die kleinen Xhosa-Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren bekommen nicht nur gesunde, vitaminreiche Kost, sondern ihnen werden biblische Geschichten erzählt, sie lernen Verse auswendig und beten innig vor jeder Mahlzeit. Von den 62 Kindern, die hier betreut werden, haben 30 Paten in der Bundesrepublik, die mit DM 50 monatlich die Ernährung und Erziehung finanzieren.

Im Dorf, das knapp 50 km von der nächsten etwas größeren Stadt entfernt liegt, gibt es viele unterernährte Kinder und solche, die unter Fehl- bzw. Mangelernährung leiden. Zu Hause bekommen sie tagaus, tagein nichts anderes als gestampften Mais. Die dadurch bedingten Entwicklungsstörungen versucht man in der Tagesstätte auszugleichen bzw. aufzuheben. Die Kinderzeichnungen an der Wand des viel zu kleinen Gruppenraumes lassen bereits deutlich Entwicklungsverzögerungen erkennen. Das liegt nicht nur an Ernährungsdefiziten im Säuglings- und Kleinkindalter, sondern auch daran, daß zu Hause keinerlei geistige Anregungen gegeben werden können.

„Besonders in den ländlichen Gebieten leiden die Kinder“

Ein wichtiger Bestandteil der Erziehung in den Tagesstätten ist die Sauberkeit. Obwohl es auch in den Projekten meist kein fließendes Wasser gibt, werden die Kinder mit notwendigen hygienischen Grundregeln vertraut gemacht.
Nachdem wir uns einen Eindruck verschafft haben, unter welch schweren Voraussetzungen und Bedingungen sich die Arbeit mit den Kindern in den ländlichen Projekten gestaltet, fliege ich mit Mrs. Mvovo nach Kapstadt. Dort gilt unsere Aufmerksamkeit den schwarzen „townships“ Crossroads und Khayelitsha. In Begleitung des farbigen Bischofs der Moravian Church, J. J. Ulster, fahren wir in diese beiden Elendsviertel. „Ich glaube nicht, daß es ein Maß gibt, mit dem wir das Elend der Kinder in Crossroads wirklich erfassen könnten, denn es gibt keine Statistiken“, erklärt Bischof Ulster, und er fährt fort: „Viele Familien leben hier, die monatelang keine Arbeit haben, und wir wissen, daß in dieser Zeit die Kinder leiden, weil sie nicht genug zu essen bekommen und weil man sich nicht um sie kümmert.“

Ein Gang durch die Reihen der erbärmlichen Bretter- und Wellblechverschläge bestätigt die Worte des engagierten Bischofs. Überall begegnen uns viele Kinder, zerlumpt, dreckig und mit deutlichen Anzeichen von Fehl- und Mangelernährung. Die hygienischen Verhältnisse, unter denen man hier lebt, sind menschenunwürdig. In Crossroads hat sich die Regierung nach langen Auseinandersetzungen endlich bereit erklärt, etwas für die Familien zu tun. Frauen und Kinder aus den „homelands“ sind in den vergangenen Jahren hierher gezogen. Sie wollten nicht, daß ihre Männer elf Monate im Jahr in einem „Männer-Wohnheim“ leben, denn das führte häufig dazu, daß diese sich eine „Zweitfrau“ in der Stadt nahmen. „Am Anfang wollten die Behörden ihnen keine Genehmigung geben, um hierzubleiben, aber die Frauen waren unerbittlich. Sie erhielten kirchliche Unterstützung, denn die Kirchen predigen Anständigkeit und die Heiligkeit des Familienlebens“, erklärt Bischof Ulster.

„Viele Familien haben monatelang keine Arbeit“

Endlich hat man nun begonnen, Straßen und Häuser zu bauen und für eine Kanalisation zu sorgen. Viele Bemühungen der Regierung stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den Bedürfnissen der Menschen. Den Sanierungsarbeiten fiel auch eine Kindertagesstätte zum Opfer, in der 100 Kinder von der „Kindernothilfe“ unterstützt wurden. Ohne zuvor eine Ausweichmöglichkeit zu schaffen, wurde sie eines Tages von den Planierraupen niedergewalzt.
„Wenn die Kinder einer Nation im frühen Alter in der Entwicklung behindert werden, also Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren, dann ist wirklich die ganze Nation behindert. Deshalb glaube ich, daß wir durch die Arbeit mit diesen Kindern die Zukunft der Schwarzen in Südafrika beeinflussen.“ Mit diesen Worten kommentiert Mrs. Mvovo die Bedeutung der Arbeit in den Projekten.
Wir besuchen noch eine Reihe von Heimen und Tagesstätten am Rande von Kapstadt, später auch in und um Johannesburg. Die Probleme sind überall ähnlich, die Arbeit ist vorbildlich. Im Gegensatz zu jenen Kindern, die in den „squatter camps“ unbeaufsichtigt herumlaufen und verwahrlosen, entwickeln sich die Kinder in den Projekten auf ganzer Linie positiv.

Auf die Frage, was man von Deutschland aus tun könne, um diesen Kindern zu helfen, werden wirtschaftliche Sanktionen von all unseren schwarzen und farbigen Gesprächspartnern, die ausnahmslos vor Ort gegen die soziale Not kämpfen, abgelehnt.

Bischof Ulster nennt drei Punkte am Ende unseres Besuches, wie von außen Einfluß auf Südafrika genommen werden kann: „Erstens: Indem Sie beten, daß es in den Herzen besonders der verantwortlichen Politiker zu einem Wandel kommt, so daß die schwarzen Kinder Gottes als ebenbürtig anerkannt werden und man ihnen Raum für die Entwicklung all ihrer Fähigkeiten gibt. Zweitens sollte der Entwicklung unserer schwarzen Kinder Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn ohne finanzielle Mittel ist ein Entwicklungsprogramm nicht möglich.

Drittens: Solange die Mehrheit der Einwohner dieses Landes kein Stimmrecht hat, sind der Druck und die Forderungen aus dem Ausland sehr hilfreich, um einen Wandel in diesem Land zu bewirken. Wir brauchen eine Solidarität, die keinen Haß heraufbeschwört und auch keine Gewalt.“