taz Nord vom 24.8.2006
Dokumentation Elisabeth Motschmann
Motschmann: Webers Reaktion auf das späte Geständnis von Günter Grass wird dem Sachverhalt nicht gerecht
Die Aussage, „die lautstarken Polemiker, die aus der Autorität Grass quasi über Nacht einen Bösewicht machen wollen, sind offenbar von allen guten Geistern verlassen“, ist unverantwortlich. Wer anderen Polemik vorwirft, sollte selbst nicht derartig polemisch antworten, schon gar nicht, wenn es um das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte geht. Mit seiner Aussage hat der Bürgerschaftspräsident gewiss nicht für alle Bremerinnen und Bremer gesprochen. Kritik an dem zu späten Geständnis von Günter Grass bedeutet nicht, „von allen guten Geistern verlassen zu sein“. Vielleicht hat Christian Weber nicht sorgfältig genug registriert, wer sich in den vergangenen Wochen kritisch zu dem Verhalten von Grass geäußert hat. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, Polens Ex-Präsident und Nobelpreisträger Lech Walesa, der Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, der Literaturkritiker Hellmuth Karasek, der Grass-Biograph Michael Jürgs, die Historiker Joachim Fest und Michael Wolffsohn gehören wohl kaum zu den Persönlichkeiten, denen man vorwerfen kann, „lautstarke Polemik“ zu verbreiten und „von allen guten Geistern verlassen“ zu sein.
Die Tatsache, dass Grass erst nach 60 Jahren gesteht, in der Waffen-SS gedient zu haben, hat viele ernst zu nehmende Fragen im In- und Ausland aufgeworfen. Dabei steht die Mitgliedschaft in der Waffen-SS eines verführten 17-Jährigen nicht im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Art und Weise, wie Grass mit aller Entschiedenheit die Vergangenheitsbewältigung anderer betrieben hat, ohne seine eigene Vergangenheit in der Waffen-SS einzubeziehen.
Niemand macht aus Grass „über Nacht einem Bösewicht“. Er selbst jedoch hat anderen immer wieder in drastischen Formulierungen die Rolle des Bösewichtes zugewiesen.
Man erinnere sich an seinem Beitrag 1979 zu einer Debatte über die deutsche Nachkriegsliteratur. Damals erklärte er, dass es in den vergangenen 30 Jahren immer wieder vordringlich gewesen sei, die NS-Vergangenheit „des Bundeskanzlers Kiesinger, des Ministerpräsidenten Filbinger und des derzeitigen Bundespräsidenten Karl Carstens aus verstaubten, verlegten, plötzlich einsehbaren Akten zu ziehen“.
Über Kiesingers Nachfolger Helmut Kohl sagte Grass am 6. Mai 1985 in einer Rede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation, der Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen und des Soldatenfriedhofs Bitburg gemeinsam mit US-Präsident Reagan sei eine „Geschichtsklitterung, deren auf Medienwirksamkeit bedachtes Kalkül Juden, Amerikaner und Deutsche, alle Betroffenen gleichermaßen verletzt“. Als Präsident der Berliner Akademie der Künste kam er zum Schluss: „Als hätten wir nicht Bürde genug, erweist sich Kohl als zusätzliche Belastung der deutschen Geschichte, doch auch diesen Ballast haben wir uns verdient.“
Das schriftstellerische Werk von Grass sollte nicht in Frage gestellt werden. Dennoch liest sich manches anders vor dem Hintergrund seiner eigenen Vergangenheit. In der Novelle „Im Krebsgang“ heißt es: “ Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte, ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch.“ Derartige Äußerungen schlagen jetzt wie ein Bumerang auf den Autor zurück.
Die Erregung in Polen, insbesondere in seiner Geburtsstadt Danzig, kann uns nicht unberührt lassen. Der Zweite Weltkrieg mit Millionen von Toten begann mit dem deutschen Beschuss der Westernplatte von Danzig. Diese Stadt verlieh ihm 1993 die Ehrenbürgerschaft – im Wissen um seine Verdienste für die deutsch-polnische Aussöhnung, aber im Nichtwissen um seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Dies sollte uns Bremer, die wir eine besondere Beziehung zu dieser Stadt haben, nachdenklich stimmen.
Wir sind stolz darauf, mit Hans Koschnik einen Ehrenbürger der Stadt Danzig zu stellen und seit 1976 eine Städtepartnerschaft mit Danzig zu pflegen. Seit dem Jahr 2001 gibt es darüber hinaus die Grass-Stiftung. Empfiehlt Christian Weber den Bremern nun angesichts der Ereignisse, einfach zur Tagesordnung überzugehen? Schweigen ist die schlechteste Vergangenheitsbewältigung. Darin sind wir uns bisher in Deutschland jedenfalls weitgehend einig gewesen.
Mit dem Schatten in seiner eigenen Vergangenheit hat Grass den Literatur-Nobelpreis 1999 angenommen. Geehrt wurde er dafür, das „vergessene Gesicht der Geschichte“ beschrieben zu haben. Hätte er sich nicht spätestens aus diesem Anlass offenbaren müssen, auch wenn es eventuell den renommierten Preis gekostet hätte?
Christian Weber hat erklärt: „Bremen ist und bleibt eine Grass-freundliche Stadt“. Die Frage muss erlaubt sein, was er damit meint? Ist Grass für ihn untadelig, unantastbar, ein Heiliger? Das ist er sicher nicht.
Kritikwürdiges im Verhalten von Grass muss auch sachlich und ohne jede Häme kritisiert werden dürfen. Die Kritik sollte jedoch nicht so weit gehen, dass man darüber sein künstlerisches Werk in Frage stellt. Nein, skandalisieren sollte man den „Fall Grass“ sicherlich nicht. Was aber bleibt, ist Traurigkeit über seine jahrelange Doppelmoral.