von Elisabeth Motschmann
Nach jedem Amoklauf wird fieberhaft nach den Gründen für die schrecklichen Taten der meist jungendlichen Täter gesucht. Verständlich. Meist erschöpft sich diese Suche schon nach einigen Tagen, wenn das Medieninteresse schwindet. Und all die vorübergehend tätigen Experten: Psychologen, Notfallseelsorger, Pastoren gehen spätestens nach einigen Wochen auch. Zurück bleiben todtraurige Angehörige, Eltern, Lehrer, Schüler. Alleingelassen mit ihrer Trauer, verunsichert mit ihrer unbeantworteten Frage: warum?
Allenfalls wird noch über Konsequenzen diskutiert: Verschärfung der Waffengesetze, mehr Psychologen an die Schulen, vielleicht Eingangskontrollen an den Schultoren nach amerikanischem Vorbild, bessere Krisenvorbereitung an den Schulen usw. Macht- und hilflos steht man der Tatsache gegenüber, dass Jugendliche sich zunehmend mit Killerspielen im Internet die Zeit vertreiben. Spielsüchtige Kinder gehen dieser Beschäftigung mehr als vier Stunden am Tag nach. Man operiert an den Symptomen. Die Ursachen treten dabei in den Hintergrund. „Er kommt aus einem guten oder wohlsituierten Elternhaus“, heißt es. Gemeint ist die wirtschaftliche Situation der Familie: schmuckes Einfamilienhaus, Firma mit 150 Mitarbeitern, Geldsorgen hat es also nicht gegeben. Aber ist es wirklich entscheidend, welches Einkommen die Eltern haben? Hat ein „gutes Elternhaus“ etwas mit Geld zu tun? Wohl kaum.
Wie vergessen, wie verlassen, wie ungeborgen muss ein Kind bzw. ein Jugendlicher sein, bevor er zu einer solchen Tat fähig ist? Die Täter sind meist männlich. Unsere Gesellschaft macht es sich mit ihren Kindern zu leicht. In Wahrheit stehen sie nicht im Zentrum unseres Interesses, unseres Nachdenkens, unseres Handelns. Sie sind weithin sich selbst überlassen. Eltern haben immer weniger Zeit für ihre Kinder, Erziehung ist zur Nebensache geworden im Elternhaus und auch in der Schule. Wir geizen nicht nur mit Geld, wir geizen mit unserer Zeit für die Kinder. Wir geizen mit Liebe, mit Zuwendung, mit Geborgenheit. Kinder werden „angeschafft“, sollen möglichst von der Geburt an vom Staat betreut werden. Eltern gehen ihre eigenen Wege: Karriere, Selbstverwirklichung und Geldverdienen sind ihnen wichtiger als ihre Kinder. Damit soll weder etwas gegen eine Karriere von Vätern oder Müttern gesagt werden, noch gegen die Selbstverwirklichung, noch gegen das Geldverdienen, das ja zum Unterhalt einer Familie in der Tat notwendig ist.
Aber welchen Stellenwert messen wir bei all diesem Tun unseren Kindern bei? Welchen Platz haben sie noch in unserem Leben? Wie viel Zeit bleibt für sie? Kümmern wir uns genug um sie? Beschäftigen wir uns mit ihnen? Gibt es Gespräche über die flüchtige, unumgängliche Alltagsverständigung hinaus? Gibt es gemeinsame Unternehmungen, Ausflüge oder Reisen? Welche Alternativangebote machen wir ihnen zum täglichen Internet- oder Fernsehkonsum? Vielen Eltern ist die „Kinderwelt“ wichtig und sie können auf all diese Fragen positiv antworten, unabhängig davon, ob das Familieneinkommen groß oder eher bescheiden ist. Das darf nicht vergessen werden.
Aber wie viele Eltern betrachten die Erziehung ihrer Kinder als etwas, das sie so wenig wie möglich belasten und von ihrer „eigentlichen Arbeit“ abhalten soll. Leider wird auch kaum über die Freude, das Glück, die Erfüllung gesprochen, wenn man sich auf Kinder einlässt und sie der Mittelpunkt des Familienlebens sind. Das Leben mit Kindern ist abwechslungsreich, spannend, lebendig. Kein Tag ist wie der andere. Die Fragen von Kindern und Jugendlichen fordern uns heraus, rücken unsere eigenen Vorstellungen nicht selten gerade. Wer sich bemüht, die Welt aus dem Blickwinkel der Kinder und Jugendlichen zu sehen, kommt zu anderen Ergebnissen, als wenn man nur seine eigene Befindlichkeit reflektiert und bespiegelt. Kinder schützen vor Egoismus. Kinder machen das Leben fröhlicher, wärmer, reicher – auch aufregender. Dies gilt es viel mehr zu betonen als die Schattenseiten.
Probleme sind medial interessanter als die guten Nachrichten. Das ist eine Binsenweisheit. Dennoch wäre es hilfreich, wenn sich unsere Gesellschaft darauf verständigen könnte, Kinder weniger als Last und mehr als Lust zu sehen. Die niedrigen Geburtenraten sind auch darauf zurückzuführen, dass wir junge Menschen zu wenig ermutigen, Kinder zu bekommen und mit ihnen zu leben. Wenn Eltern und Kinder nebenher leben, sich gleichgültig werden, entstehen Paralellwelten. Sie zusammenzufügen wird – je länger dieser Zustand andauert – immer schwerer. Finanzkrisen sind schlimm und sind – wie wir im Augenblick erkennen – nicht einfach zu bewältigen. Wenn wir es aber mit Krisen unserer Kinder und Familien zu tun haben, dann ist das weitaus bedrohlicher. Darum wird es höchste Zeit, dass wir unsere Werte neu justieren und den größten Wert, den größten „Schatz“ mit der höchsten „Rendite“: unsere Kinder, wieder in den Mittelpunkt unseres eigenen Lebens und das der Gesellschaft rücken.