Die „Quotengier“

am Beispiel des Moderatorenwechsel bei „3nach9“
Positionspapier für den Fernsehausschuss / Radio Bremen

am 12. August 2009

von Elisabeth Motschmann

1. „Unser Gott, die Quote“

„Unser Gott, die Quote“ mit dieser Überschrift titelte „Die Zeit“ im  Februar dieses Jahres. In wünschenswerter Deutlichkeit geht der Beitrag mit ARD und ZDF ins Gericht, weil für diese die Quote zur Droge geworden ist und darüber ernsthafte Inhalte, der Bildungsauftrag, die Kultur, kurz der eigentliche Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sender zurücktritt oder auf unattraktive Sendeplätze kurz vor Mitternacht verbannt wird. „ARD und ZDF sind auf dem besten Weg, sich selbst abzuschaffen – mit einem Programm, das die Privaten kopiert…Das Fernsehen rennt flüchtenden Zuschauern hinterher… sucht Anschluss, irrt herum.“ Wie recht haben die beiden Autoren, Stephan Lebert und Stefan Willeke, mit ihrer Kritik. Wie richtig, dass Giovanni di Lorenzo als Chefredakteur der „Zeit“ diese Darstellung einer großen Schwäche von ARD und ZDF  ins Blatt genommen hat.

Und nun hat ausgerechnet er mitentschieden, dass Charlotte Roche künftig an seiner Seite die Talkshow „3nach9“ moderieren soll. Seine Begründung für die Auswahl seiner Co-Moderatorin: „Mein Herz hat sie (Charlotte Roche) mit einer Antwort erobert, die sie Hubertus Meyer-Burckhardt in der ‚NDR Talk Show‘ gab – auf die Frage, wie sie selbst ihr Buch („feuchtgebiete“) in einem Satz zusammen fassen würde.“ Roche habe erwidert: „Für Sie eine Wichsvorlage.“

Es fällt wirklich schwer, diese Begründung für die Wahl von Charlotte Roche einem so renommierten und seriösen Chefredakteur wie Giovanni di Lorenzo, abzunehmen. Plausibler wäre es gewesen, wenn er schlicht zugegeben hätte, dass diese Entscheidung auch seine eigene Position in der Sendung stärken soll, indem austariert wird: Mann und Frau, Jung und „Alt“, konventionell und unkonventionell. Dieses Rezept ist beliebt und wird auch in anderen Bereichen der Gesellschaft z.B. in der Politik angewandt. Es funktioniert aber nur, wenn Qualität und inhaltliche Stärke sowie Seriosität hinzukommen.

Vergisst der Moderator di Lorenzo von „3nach9“ die Grundpositionen, die er als  Chefredakteur vertritt, zumindest mitverantwortet? Politiker werden daran gemessen, ob Wort und Tat übereinstimmen. Und was ist mit Journalisten bzw. Moderatoren? Oder hofft er darauf, dass seine Co-Moderatorin sich in der Sendung zurückhaltender verhält. Das wird ihr wahrscheinlich am Anfang auch gelingen, aber auf Dauer? Die Talkshow hat aber nicht den Titel: „Der widerspenstigen Zähmung“, sondern „3nach9“.

2. Kompassnadel für Journalisten und Moderatoren
Marion Dönhoff, eine der herausragendsten und anerkanntesten Journalistinnen und Autorinnen der Nachkriegsgeschichte, hat 1987  unter der Überschrift: „Die Kompassnadel der Journalisten“ ihrer eigenen „Zunft“ ins Gewissen geschrieben. Sie spricht bzw. schreibt von „Gewissensprüfung“ und erwartet, dass ein Journalist das „Gemeinwohl“ nicht aus den Augen verliert. Es „ist notwendig, dass die Journalisten…selbst integer sind, sich der Wahrheit und Objektivität verpflichtet wissen und zu erkennen vermögen, was Legitimität bedeutet.“  „Er (der Journalist) soll Sachkompetenz und Sprachbegabung besitzen, Gespür haben, Intuition und Ausdrucksfähigkeit.“ Wie aktuell sind diese Mahnungen vor dem Hintergrund der heutigen Situation in so manchen Redaktionen und Funkhäusern. Was Marion Dönhoff fordert und erwartet, gilt übrigens nicht nur für Journalisten, sondern auch für Moderatoren/innen.

Vor diesem Hintergrund sollten Personalentscheidungen getroffen werden. Charlotte Roche ist bisher nicht dadurch aufgefallen, dass sie diese – zugegebenermaßen strengen –  Dönhoffschen Kriterien erfüllt. Auch nicht bei „Viva“.  Darum kann man auch nicht allen Ernstes ihre Wahl damit rechtfertigen, dass man sie als „Viva“-Moderatorin eingestellt habe und nicht als Autorin der „feuchtgebiete“? Man kann doch eine Persönlichkeit nicht spalten: hier die Moderatorin, da die Autorin. Beides gehört untrennbar zusammen, zumal der Roman auch einen autobiographischen Hintergrund hat.

3.Meinungsfreiheit  – ein hohes Gut

Charlotte Roche bezeichnet sich selbst als „perverse Sau“. „Ich habe mich volle Kanne eingeschleimt, weil ich unbedingt den Job haben wollte.“, lässt sie die Öffentlichkeit wissen und fügt auf die Frage, ob sie sich im neuen Amt verändern werde, hinzu: „Ich kann ja niemanden verarschen und so tun, als wäre ich jemand anderes.“ (Weser Kurier v. 19.06.09)

Die Ehrlichkeit ist entwaffnend, Sprache und Inhalt überschreiten jegliche Grenzen des Erträglichen. Dennoch: jeder/jede kann so denken und so reden. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber muss sich ein Arbeitgeber – in diesem Fall Radio Bremen – so erniedrigen und sich so etwas gefallen lassen?

Meine Kritik richtet sich nicht gegen eine Frau, die mit einem lächerlichen Kniefall vor dem Kulturstaatsminister, Bernd Neumann, bei der Berlinale krampfhaft und medienwirksam auf sich aufmerksam machen wollte. Jeder blamiert sich so gut er kann selbst.

Meine Kritik richtet sich auch nicht gegen eine junge Erfolgsautorin, die mit einem durch und durch  obszönen  Buch hohe Auflagen erzielt hat.

Meine Kritik richtet sich erst recht nicht dagegen, dass es in dem Erstlingswerk von Charlotte Roche um die Hämorrhoiden der Romanfigur, Helen Memel, um deren Sexualleben mit wechselnden Partnern, um ihre perversen sexuellen Phantasien. („Ich kann mir sehr gut und gerne Sex mit meinem Vater vorstellen.“) geht.

Toleranz heißt: ertragen, erdulden. So verstandene Toleranz müssen wir aufbringen. Aber bei Radio Bremen sollte eine Autorin, die in diesen Sprach- und Gedankenwelten lebt, nicht einziehen.

4. Wenn alles Christliche lächerlich gemacht wird

Meine Kritik richtet sich sehr viel mehr dagegen, dass Charlotte Roche überhaupt keine Tabus kennt und für sich akzeptiert. Dazu gehört der christliche Glaube, der Bestandteil der Würde des Menschen ist und darum unantastbar sein sollte. Alles Christliche, insbesondere die Bibel, wird von der Protagonistin im Buch („feuchtgebiete“) lächerlich gemacht. („Ich ziehe die Schublade auf. Die Bibel. Natürlich. Diese Christen. Die versuchen es aber auch überall. Nicht mit mir. Als Blickabschirmer ist sie gerade gut genug. Ich stelle sie falschrum, damit das Kreuz auf dem Kopf steht.“ Oder: „Auf der Alm, da steht ne Kuh, halleluja, macht ihr Arschloch auf und zu, halleluhuja.“)

Für das Christentum scheint es in unserem Land keinen Schutz mehr zu geben. Was vielen Menschen heilig ist, kann man beliebig in den Dreck ziehen. Nur bei anderen Religionen, dem Judentum oder dem Islam gibt es zum Glück noch Rücksichtnahme und Sensibilität. Ist es zu viel verlangt, wenn man die gleiche Behutsamkeit auch für unseren eigenen Glauben einfordert, auch wenn wir es mit einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft zu tun haben? Dazu noch einmal Marion Gräfin Dönhoff: „Der Mensch ohne metaphysische Bindungen ist seinem Größenwahn ausgesetzt und für jede Manipulation anfällig.“ (Rheinischer Merkur  v. 26.7.1996)

Die einzige Kritik, die ich erhebe, besteht darin: Warum beruft ein öffentlich rechtlicher Sender eine Moderatorin, die eine solche „geistige Visitenkarte“ abgegeben hat, zumal der Sender bei der „Pornorapperin“ Lady Ray anders entschieden hat? Sie durfte wegen ihrer obszönen Texte nicht mehr bei Radio Bremen moderieren.

Charlotte Roche selbst hat nicht damit gerechnet, ein solches Job-Angebot zu bekommen: „Es ist auch wie ein Wunder, dass jemandem wie mir nach so einem Buch wie letztes Jahr so ein Job angeboten wird. So ein toller, großer, seriöser Job – ich freue mich total. (Weser Report, 15.07.09)

5. Wenn Sprache verroht

„Köder werfe man aus, ununterbrochen, damit die Zuschauer anbeißen.“ So beklagt „Die Zeit“ den permanenten Niveauverlust von ARD und ZDF. Ist in diesem Fall Charlotte Roche „der Köder“? Wenn man gerade jugendliche Zuschauer gewinnen will, welch ein „Vorbild“  bietet ihnen Radio Bremen mit Charlotte Roche? Welchen ethischen Kompass hat sie – wenn sie überhaupt einen hat?   Wo sind ihre Toleranz und ihre Sensibilität gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen? Ihre Sprache ist grob, verroht und obszön. Die Sprachkultur in unserem Land ist ohnehin häufig kaum noch erkennbar. Für Eltern und Lehrer ist es schwer, Kinder zu einem  sorgsamen Sprachgebrauch zu erziehen.

Zumindest die ARD und das ZDF tragen Mitverantwortung dass die Verrohung der Sprache nicht fortschreitet. Wie will man Jugendlichen eine Kultur der Sprache vermitteln, wenn sich die öffentlich rechtlichen Sendeanstalten selbst daran beteiligen, dass unsere Sprache weiter verkommt?

Dies gilt auch deshalb, weil Sprache nicht zu trennen ist von Inhalten. Wo die Sprache verroht, verrohen auch die Inhalte. Wer keinen Wert auf eine Sprachkultur legt, legt auch keinen Wert auf Inhalte. Das kann man überall beobachten – nicht nur in den „feuchtgebieten“. Gewalt in der Sprache ebnet z.B. tatsächlicher Gewalt den Weg.

6. Wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen

Radio Bremen möchte ein anspruchsvolles Programm machen. Leider klaffen Anspruch und Wirklichkeit zumindest im Hinblick auf die Besetzung der Moderatorenstelle bei „3nach9“ weit auseinander. Es reicht eben nicht, von der Qualität des Programms zu reden, wenn die Qualität letztlich auf dem Altar der Quote und der Marktanteile geopfert wird. Es reicht schon gar nicht, auf die privaten Anbieter arrogant herabzublicken und die Seichtigkeit ihrer Programme zu kritisieren, wenn man selbst nicht besser, sondern nicht selten schlechter ist.

Obwohl es so viele hochqualifizierte, gut ausgebildete, seriöse und doch auch spritzige/witzige junge Frauen in den Medien gibt, fällen die Verantwortlichen bei Radio Bremen eine billige, durchsichtige Marketingentscheidung. Welch ein Signal ist das an die jungen, weiblichen Nachwuchstalente in den Medien? Es gibt sie nämlich. Man muss noch nicht einmal suchen. Leider jedoch trübt die „Quotengier“ die öffentlich-rechtlichen Brillen.

Im Blick auf diesen traurigen Niveauverlust fragt „Die Zeit“: „Warum hört man keine Protestschreie aus der Politik?“ Hier ist einer! Es kann in der Tat nicht sein, dass diejenigen, die selbst auftragsgemäß andere kritisieren, selbst in einem nicht zu kritisierenden Schonraum leben und arbeiten.

Auch die Sendeanstalten, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, die mit den Geldern der Rundfunkteilnehmer finanziert werden, können nicht in „geschützten Werkstätten“ tun und lassen, was sie wollen. Auch sie dürfen kritisiert werden, denn auch diese Kritik unterliegt der Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit ist keine Einbahnstraße. Eine Gesellschaft, die nicht mehr „zuckt“, wenn sie sich provoziert fühlt, von wem auch immer, ist leblos, vielleicht sogar lieblos. Leidenschaftliche Diskussion und Opposition kommen nur dann auf, wenn das, was im Mittelpunkt der Kritik steht, einem etwas bedeutet, wenn man es liebt.

7. Wölfe schleichen um die Funkhäuser

Darum ist diese Kritik Ausdruck von Sorge um einen Sender und das öffentlich-rechtliche System. Kurt Beck hat recht wenn er sagt: „Wölfe schleichen um die Funkhäuser und suchen nach Beute.“ Sie lauerten schon lange auf den Moment, in dem sie gemeinsam mit der privaten Industrie über die Sendeanstalten herfallen könnten, um ihnen die großen Budgets zu entreißen. Wölfe näherten sich auch aus Brüssel, der Europäischen Kommission missfalle das deutsche Modell der Fernsehgebühren. Wölfe, überall Wölfe. („Die Zeit“ v. 19.02.09)

„Wölfe“ lauern auch um Radio Bremen. Die Existenz des Senders ist noch nicht einmal innerhalb der ARD unumstritten. Gleiches gilt für den politischen Raum. Bisher argumentierten die „Wölfe“ insbesondere im Hinblick auf die Finanzierbarkeit eines so kleinen Senders, der mit einem beträchtlichen Defizit zu kämpfen hat. Was passiert eigentlich, wenn auch inhaltliche Gründe hinzukommen? „Wölfe“ sind nicht für ihre Gutmütigkeit bekannt. Irgendwann beißen sie zu. Die „Quoten- und Geldgier“ der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind für die Wölfe ein Sonntagbraten und befördern ihre Gier.