Rheinischer Merkur.24. August 1990
Mutter Teresa, Ordensgründerin und Friedensnobelpreisträgerin, wird am 27. August 80. Über eine persönliche Begegnung mit ihr berichtet eine evangelische Theologin
Von Elisabeth Motschmann
Niemals hat mich ein Gespräch so bewegt und berührt wie das Gespräch mit der Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa aus Kalkutta. Als ich im November 1988 in Wien neben der gebürtigen Albanerin saß, blickte ich zu nächst in ihr Gesicht. Dieses Gesicht hat eine ungewöhnliche…
…Ausstrahlung. Es spiegelt wider, was dieser Welt fehlt und was sie doch so dringend braucht: Liebe, Güte, Freude, Frieden und Glauben. Das Gesicht Mutter Teresas leuchtet von innen und ist darum – obwohl schon alt und von vielen tiefen Runzeln gezeichnet- unglaublich schön. Ihre Augen sind lebendig und wach, ihnen scheint nichts zu entgehen. Diese Augen haben die äußere und innere Not in dieser Welt gesehen.
1950 begann Mutter Teresa in den Slums von Kalkutta die Kinder der Ärmsten zu unterrichten. Mit fünf Kindern und fünf Rupien indischen Geldes fing sie an. Heute kommen täglich Hunderte von Kindern in diese Schule. Sie werden ernährt und unterrichtet, vor allem aber geliebt. Am Anfang ihrer Arbeit mußte Mutter Teresa gegen unendlich viele Widerstände kämpfen. „Nicht ich habe angefangen, sondern Gott gab den Auftrag. Ich bin nur sein Werkzeug. Ich möchte lieben, wie er liebt, helfen wie er hilft, geben wie er gibt, dienen wie er dient und retten wie er rettet“, erzählt Mutter Teresa. In ihren Händen hält sie einen Rosenkranz. Man sieht es ihr an, daß sie zeitlebens keine harte Arbeit gescheut hat. Diese Hände haben gedient: Sie dienten den Ärmsten der Armen. 1952 eröffnete Mutter Teresa das erste Kinderheim für Sterbende. Seitdem hat sie mit der von ihr gegründeten Kongregation der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ viele tausend sterbende Menschen von den Straßen Kalkuttas aufgelesen. „Warum haben Sie gerade diesen hoffnungslosen Kampf aufgenommen?“ wollte ich wissen. „Wir möchten diesen Menschen das Gefühl geben, geliebt zu werden, vielleicht nur ein paar Stunden oder einige Tage. Sie sollen göttliche und menschliche Liebe kennenlernen. Auch sie sind Kinder Gottes. Sie werden nicht vergessen. Das wollten wir sie spüren lassen.“
Während Mutter Teresa spricht, ist ihr Gesichtsausdruck voller Güte. Ich beginne zu ahnen, was sie meint, wenn sie sagt: „In den Slums sind wir das Licht der Güte Gottes für die Armen. Den Kindern, den Armen, allen die leiden, einsam oder krank sind, gebt immer ein glückliches Lächeln. Gebt ihnen euer Herz.“
Mein Blick gleitet über die schlichte Kleidung dieser Frau: über den weißen Sari mit blauer Borte und einem Kreuz. Auf der Schulter liegt eine dunkelblaue Strickjacke, die Ärmel sind gestopft. Mutter Teresa braucht keinen äußeren Schmuck. Sie trägt einen anderen – innerlichen. Sie lebt, was sie sagt. Das macht sie überzeugend und mitreißend. Es ist kein Wunder, daß es unter den „Missionarinnen der Nächstenliebe“ keinen Nachwuchsmangel gibt.
Überall in der Welt hat diese Kongregation inzwischen Niederlassungen. Mutter Teresa könnte stolz sein angesichts dieses Erfolges. Sie ist es nicht. Sie betrachtet alles, was sie tut und schon erreicht hat, nicht als ihr Werk, sondern als Werk Gottes. Niemals versucht sie ihre eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen. Publizität für die christliche Botschaft bejaht sie – für ihre Person hingegen nicht. Ihre Sorge galt in den letzten Jahren nicht nur den Verhältnissen in Indien. Sie reiste und predigte. Sie weiß sehr genau, daß es auch in der westlichen Welt Armut zu bekämpfen gibt. Sie sah und diagnostizierte die seelische Armut der sogenannten reichen Nationen. Mutter Teresa begnügt sich nicht damit, Not aufzuspüren und einfach zu benennen. Sie zeigt immer auch den Weg, der aus dem Elend herausführt. „Ihr müßt wieder lernen, in den Familien zu beten: Macht eure Familien zu einem eurem Nazareth.“ Mutter Teresa betet, als hülfe alles Arbeiten nichts, und sie arbeitet, als hülfe alles Beten nichts. Diese Devise Martin Luthers könnte auch ihre Devise sein. Im Gebet holt sie sich die Kraft, die sie für ihren Dienst braucht. Der Andachtsraum im Mutterhaus der Missionarinnen der Nächstenliebe“ in Kalkutta wird bezeichnenderweise „power station“ genannt.
„Das Gebet nützt der ganzen Welt“, betont sie immer wieder, „denn der Frieden beginnt zu Hause und in unserem eigenen Herzen. Wie können wir Frieden in die Welt bringen, wenn wir keinen Frieden in uns haben?“
Die Friedensbotschaft Mutter Teresas unterscheidet sich grundlegend von allen politischen Gedanken, Initiativen und Parolen zum Frieden. Das wurde in ihrer Rede anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 1979 in Oslo deutlich. „Der größte Zerstörer des Friedens ist heute die Abtreibung. Sie vernichtet die Gegenwart Gottes, das Bild Gottes. Jedes Kind ist Ebenbild Gottes und durch die liebende Hand Gottes erschaffen. Doch wenn eine Mutter ihr eigenes Kind töten kann, was können dann die anderen anderes tun, als sich gegenseitig umzubringen. Gott hat doch gesagt: ‚Selbst wenn eine Mutter ihr Kind vergessen könnte, ich vergesse euch nicht, denn ich habe euch eingezeichnet in meine Hand.‘ „Denken wir daran, daß Gott jeden von uns von Anfang an geliebt hat und noch immer liebt.“
Obwohl Mutter Teresa zu den leidenschaftlichsten Gegnern der Abtreibung überhaupt gehört, hat sie immer diejenigen, die ein Kind abgetrieben haben, gerade in ihr Gebet miteingeschlossen. „Abtreibung tötet zwei: das Kind und das Gewissen der Mutter. Frauen, die abgetrieben haben, brauchen dringend Vergebung. Wir müssen für sie beten, damit sie Gott und ihr Kind um Verzeihung bitten. Erst dann können wir ihnen helfen, Vergebung und Frieden in ihrem Herzen zu finden.“
„Sind Sie niemals erschöpft, müde oder deprimiert angesichts all der Not und all der Lieblosigkeit im Großen wie im Kleinen?“ frage ich Mutter Teresa abschließend. Ihre Antwort ist ebenso schlicht wie klar: „Jesus ist für uns das Brot des Lebens geworden, damit wir leben können. So beginnen wir jeden Tag mit Jesus. Er ist immer bei uns, und wir können alles, was wir tun, mit Jesus und durch Jesus erreichen.“
Nach diesen Worten, diesen Bekenntnissen fällt es mir schwer, mich mit oberflächlichen Höflichkeitsfloskeln für das Gespräch zu bedanken. Einen Augenblick schweige ich. „Beten Sie, bevor Sie schreiben“, gibt mir Mutter Teresa noch mit auf den Weg, und dann schreibt sie mit ihrer klaren Handschrift eine Botschaft auf ein Blatt Papier. Es ist das Vermächtnis ihres ganzen Lebens: „Love others as God loves you. God bless you. Teresa.“