Die Glocke, September 9/89
Serie: Die vielen Gesichter Indiens
Von Elisabeth Motschmann
KINDER ALS HANDELSWARE
Anders erleben wir die Arbeit von Mutter Teresa in Kalkutta. Die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ beten noch mit den Sterbenden. Unabhängig davon, welcher Religion die leidenden Menschen angehören. Die Schwestern in ihren schlichten weißen Saris mit blauer Borte und einem Kreuz, das über der Schulter hängt, erzählen von der Liebe Gottes.
Vor allem aber versuchen sie, diese Liebe Gottes in tätige Nächstenliebe umzusetzen. Kalkutta, diese Stadt, die niemand wirklich beschreiben kann, schreit geradezu nach dieser Hilfe.
In Kalkutta wird man Zeuge einer der schlimmsten Stadtkatastrophen des Erdballs. Niemand kann an dem Elend dieser alten Metropole, über der ständig der Gestank von Fäkalien und Verwesung hängt, vorbeisehen. Es gibt keine Oasen. Man wird hineingerissen in den Strudel des Elends und des Jammers.
Wir landen in Kalkutta am späten Abend. Wie so oft auf dieser Reise haben wir mehrere Stunden Verspätung. Wir durchqueren die Stadt mit dem Taxi. Einige Straßenzüge sehen aus, als wären sie bombardiert: verfallene Häuser, schiefe Dächer, zerstörte Fassaden. In der Dunkelheit wirkt alles noch trostloser und unheimlicher als am Tag.
Gelebt wird in Kalkutta draußen – nicht drinnen. Man nennt diese Menschen, die auf den Bürgersteigen vegetieren, „pavement dwellers“. Niemand weiß genau, wieviele es sind. Spielt es überhaupt noch eine Rolle, ob eine halbe Million oder eine ganze Million Menschen auf diese Weise ihr Leben fristen? Auf dem Bürgersteig wird gekocht und gegessen, geschlafen und geliebt und schließlich auch gestorben. Das totale Fehlen einer Intimsphäre bleibt für die Betroffenen ausweglose Realität. Auch im Slum ist das nicht viel anders. Zwar gibt es hier notdürftige Unterkünfte, aber wenn ganze Großfamilien in einem winzigen Raum zusammengepfercht sind, dann unterscheidet sich dieses Leben nicht wesentlich von dem Dasein eines pavement dweller.
Kalkutta: eine Stadt schreit nach Hilfe
Die Eindrücke, die gleichzeitig bei einem Gang durch die Stadt auf den Besucher einstürmen, übersteigen die Fassungskraft. Kleine Kinder heften sich an unsere Fersen. Oft haben sie noch kleinere Kinder auf dem Arm. Ihre Hände strecken sich uns entgegen, ihre Augen bitten: „Gib‘ mir eine Kleinigkeit – und wenn es nur ein Rupi ist.“ Frauen in bunten Saris wirken fast heiter im Gewimmel und Gewühl von Menschen, Autos, Ochsenkarren und Rikschas. Plötzlich sehe ich einen kleinen Jungen. Er schraubt seinen Kopf in den Sand. Passanten stehen herum und honorieren diese „Leistung“ mit ein paar Geldstücken. Der Junge strahlt, als er seinen Kopf blitzschnell wieder aus dem dreckigen Sand zieht. Eine von unzähligen Formen, sich Geld zu verdienen – vielleicht nur für eine einzige Mahlzeit.
Im nächsten Augenblick sieht man, wie ein Toter fortgetragen wird auf einer primitiven Trage. Daneben wäscht sich ein junger Mann an einem öffentlichen Wasserhahn. Ausgemergelte Gestalten tragen gewaltige Lasten auf ihren Köpfen. Eine Mutter stillt ihr Kind, eine andere kocht auf einem kleinen Feuerchen für die Familie. Darf man stehenbleiben und zusehen? Oder ist es besser, so zu tun, als sähe man nichts? Was denken diese Menschen, die unter so unwürdigen Bedingungen leben? Ich weiß nicht. Will ich es überhaupt wissen? Könnte ich die Wahrheit ertragen?
Ehe ich eine Antwort auf diese Fragen finde, betrete ich das Kinderhaus „Shishu Bhavan“, in dem die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ Kinder betreuen, die sie auf den Straßen Kalkuttas auflesen. Einige spielen in Gruppen mit einer Schwester, andere löffeln aus kleinen Schalen ihr Mittagessen. Wieder andere befinden sich in Betten. Darunter winzig kleine Säuglinge und schwer behinderte Kinder. Niemand will sie haben. Schon beim Anblick dieser hilflosen, zum Teil unvorstellbar verstümmelten Kreaturen krampft sich das Herz zusammen.
Hier werden sie gepflegt und geliebt. Diese Liebe ist sichtbar, spürbar, jede Schwester strahlt sie aus, selbst der Besucher wird von dieser Liebe eingehüllt. Kraft für ihren schweren Dienst holen sich die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ in einem Andachtsraum, „power station“ genannt. Dort sammeln sie sich morgens und abends eine Stunde zum Gebet oder zur Messe.
Wir verlassen das Kinderhaus und gehen zum Haus für die Sterbenden, „Nirmal Hriday“, am Fuße des Tempels der Göttin Kali. Auch dieses Haus verdankt die Stadt der Initiative Mutter Teresas. Auf Pritschen mit blauen Laken liegen die Kranken, Leidenden, die Alten und Sterbenden. Manche kommen auch nur für ein paar Tage. Dann haben sie sich so viel Kraft geholt, daß sie erneut hinausgehen auf die Straßen von Kalkutta, um dort ums Überleben zu kämpfen.
Alles ist einfach und sehr sauber. Der große Raum strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Er hat nichts Bedrückendes. Eine junge Frau liegt völlig entkräftet auf einer Liege. Ihre fiebrige Stirn wird immer wieder mit einem Tuch gekühlt. Eine letzte Geste der Menschlichkeit, der Zuwendung, der Liebe. In ihrem Leiden lächelt die Schwerkranke. Was mag der Grund für ihr Lächeln sein? Ist es Erleichterung und Erlösung von einem menschenunwürdigen Leben oder die Gewißheit auch im Tod nicht allein zu sein? „Wir sagen den Menschen, daß sie vor Gottes Angesicht treten werden, daß er auf sie wartet“, erzählt eine der Schwestern.
Wort und Tat sind in den Häusern Mutter Teresas zu einer Einheit verschmolzen. Bedenkt man das Ausmaß des Elends in Indien, speziell in Kalkutta, dann kommt einem der Einsatz fast hilflos vor. Und doch – wieviel Segen geht von dieser Arbeit aus?
Erziehung zu weiblichem Selbstbewußtsein
Von Kalkutta führt uns unser Weg nach Hyderabad, der Hauptstadt des Staates Andrha Pradesh. 2,5 Millionen Einwohner leben in diesem Zentrum moslemischer Kultur. Gemeinsam mit ihrer Zwillingsstadt, dem nur durch einen künstlichen See getrennten Secunderabad, zählt es zu den größten Städten Indiens.
Die Luft ist etwas klarer, das Leben ruhiger. Verglichen mit Kalkutta wirkt Hyderabad fast kleinstädtisch. Und doch unterscheidet sich das Elend der Slumbewohner nicht von dem in anderen Städten. Das Problem der Armut lauert auch hier überall.
Das Wesley Girls Hostel liegt in Secunderabad in unmittelbarer Nähe einer Klosterschule. Es wurde 1886 von der Wesley Methodist Mission gegründet und 1969 in das Patenschaftsprogramm der Kindernothilfe aufgenommen.
Unser Programm in diesem Projekt beginnt mit einer ungewöhnlichen Einladung. Die Schulleiterin Dr. Dorothy Ebenezer bittet die drei weiblichen Gruppenmitglieder in ihr Haus. Wir werden in ihr Schlafzimmer geführt. Dort liegen drei Saris bereit, in die wir von geschickten Händen „eingewickelt“ werden. Die Prozedur gleicht einer Zeremonie.
In einem Sari kann man sich nicht so bewegen, wie in salopper Reisekleidung, bestehend aus T-Shirt und Hosen. Das indische Gewand zwingt zu einer disziplinierten Haltung und zum Schreiten.
„Begrüßt unsere Freunde mit einem ‚big smile‘ fordert Mrs. Ebenezer ihre Schülerinnen auf, die sich auf dem großen Schulhof versammelt haben, um uns ein eindrucksvolles Programm vorzuführen. Es beginnt mit einer Andacht. Die Mädchen lesen biblische Texte, sie singen und beten.
Danach werden uns Tänze gezeigt. Ein Mädchen kann auffallend gut tanzen. Die kleine grazile Gestalt bewegt sich wie eine Fee. Ihre Mutter war Müllsammlerin, erfahren wir. Mit vier Jahren sammelte Mrs. Ebenzer die Kleine auf. Die Mutter des Kindes wurde geistig verwirrt, nachdem eines ihrer Kinder von einem Irren in Stücke geschnitten worden war.
Derartig grausame Ereignisse sind in Indien nicht außergewöhnlich. Täglich servieren die Tageszeitungen ihren Lesern eine überwältigende Fülle von schrecklichen Nachrichten. Viele der Katastrophenmeldungen betreffen das Schicksal indischer Frauen. Frauen werden verstümmelt, verbrannt, für eheliche Untreue enthauptet, aus der Dorfgemeinschaft vertrieben, weil man sie der Hexerei verdächtigt, usw.
80 Mädchen leben im Hostel. Alle nennen Mrs. Ebenezer ‚‚mammy‘‘. Sie fühlt sich auch wie eine Mutter, und die Atmosphäre in diesem Projekt ist außerordentlich fröhlich und familiär.
Mrs. Ebenezer sieht ihre Aufgabe darin, eine neue Generation indischer Frauen zu erziehen und zu bilden. Wenn die Mädchen zu ihr ins Hostel kommen, haben sie überhaupt nicht das Gefühl, jemand zu sein. Die traditionelle Erziehung in der Familie hat dazu geführt, daß viele sich selbst als ‚‚it‘‘ bezeichnen.
„Jedes Mädchen soll entdecken, was in ihr steckt, Selbstbewußtsein bekommen selbständig werden“, erklärt die engagierte Erzieherin. „Keine meiner Mädchen wird eine Mitgift bekommen. Ich überzeuge sie, daß ihre große Mitgift sie selbst sind.“
Wer das indische Mitgiftdrama kennt, weiß wie revolutionär dieses Erziehungsziel ist. Noch immer muß der Vater einer Tochter bis zu fünf Jahreseinkommen als Mitgift an die Familie des Bräutigams zahlen. Um den genauen Preis wird in unwürdiger Weise regelrecht gefeilscht. Da es für viele Familien den totalen Ruin bedeutet, wenn sie mehrere Töchter haben, werden etwa 600000 Mädchen pro Jahr nach einer medizinischen Geschlechtsbestimmung (Amniozentese) abgetrieben.
Man rechnet damit, daß die Amniozentese den weiblichen Bevölkerungsanteil des Landes weiter dezimieren wird. Ohnehin gehört Indien schon lange zu den Ländern, die einen auffallend niedrigen Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung haben.
Aber nicht nur durch Abtreibung wird das Mitgiftproblem in Indien „gelöst“. Viele tausend Frauen, deren Familien zahlungsunfähig sind, verbrennen jährlich beim Zubereiten einer Mahlzeit. Offiziell heißt es dann, daß ihre Saris Feuer gefangen hätten. Tatsächlich hat jedoch die Familie des Mannes die Kleider mit Brennstoff getränkt und angezündet. Auf diese Weise kann der Mann noch einmal heiraten und erneut eine Mitgift fordern. Allein in Delhi geht man von jährlich 900 Mitgiftmorden aus. Wieviele es im ganzen Land sind, weiß letztlich niemand genau. Fest steht, daß die Mädchenverachtung und Mitgiftpraxis nicht nur ein Problem der Landbevölkerung ist. Auch im Mittelstand und der Oberschicht werden ungeheure Summen für einen künftigen Ehemann geboten und gezahlt.
Frau sein in Indien – vor allem in einer hinduistischen Familie – ist auch im 20. Jahrhundert mit vielen Nachteilen verbunden.
Mrs. Ebenezer arbeitet für eine bessere Zukunft „ihrer“ Mädchen, die sie „agents of change“ (Agenten der Veränderung) nennt. Insbesondere durch eine solide Bildung wird im Wesley Girls Hostel versucht, das Schicksal der Schülerinnen zu verändern. Ohne eine Hinführung zum christlichen Glauben, wäre diese Arbeit nicht zu denken. Allerdings bemüht man sich, trotzdem indische Kultur zu pflegen. Wie fröhlich und zufrieden die Mädchen hier aufwachsen, davon können wir uns einen Tag lang überzeugen. Da fast alle Englisch sprechen, geht es mit der Verständigung problemlos. Beim Mittagessen und beim Rundgang durch die Schlafräume entstehen lebhafte Gespräche. Außerdem wird viel gelacht. Darin unterscheiden sich diese kleinen Inderinnen nicht von unseren deutschen Mädchen.
Leidenschaftlich wehrt sich Mrs. Ebenezer gegen jede Diskriminierung des weiblichen Geschlechts. Sie bedauert, daß Frauen in der indischen Gesellschaft noch immer als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Lediglich eine Mutter von Söhnen ist hoch geachtet. Eine Witwe dagegen symbolisiert Unglück. „Wer das Gesicht einer Witwe am Morgen als erster sieht, wird den ganzen Tag Pech haben“, erklärt die Leiterin des Hostels einen alten indischen Glauben und beklagt, daß derartige Überzeugungen nach wie vor lebendig sind.
Frau zu sein bedeutet diskriminiert zu sein
Wird eine Frau Witwe, dann muß sie befürchten, kahlgeschoren zu werden, weil langes Haar Weiblichkeit symbolisiert. Sie darf auch keinen bunten San mehr tragen, sondern muß mit einem weißen vorlieb nehmen. Meist wird sie aus dem Familienverband ausgestoßen, mitunter sogar verjagt. Eine Wiederverheiratung ist ausgeschlossen, da ein Mann, der eine Witwe zur Frau nimmt, als Ehebrecher verachtet wird.
Viele junge Witwen begehen darum Selbstmord, weil sie sich vor ihrer trostlosen Zukunft fürchten. Man kann sogar mitunter lesen, daß sich Frauen nach dem Tod ihres Mannes zusammen mit ihren Kindern das Leben nehmen, um sich die Erniedrigungen des Witwendaseins zu ersparen. Witwenverbrennungen, die in Indien auch heute noch stattfinden, sind für „manche Frauen schmerzloser, als das Leben einer Witwe“, schreibt das Magazin „India today“.
Ganz traurig sei es, wenn ein Mädchen schon in der Wiege verheiratet wird, erzählt Mrs. Ebenezer und der „Ehemann“ noch im Kindesalter stirbt. Das Mädchen wird auch in diesem Fall Witwe mit allen Konsequenzen.
An der indischen Sitte, eine Hochzeit für die eigenen Kinder zu arrangieren, hält auch Mrs. Ebenezer fest. In Vertretung der leiblichen Eltern sucht sie für „ihre“ Mädchen passende Ehemänner und richtet die Hochzeit aus. „In Indien beginnt die Liebe am Tag der Hochzeit“, erklärt sie, und man gewinnt den Eindruck, daß sie dies aus tiefster Überzeugung sagt. Stolz stellt sie uns Mary vor, die sie ein halbes Jahr zuvor verheiratet hat. Mary kam mit zehn Jahren ins Hostel. Ihre Heimat ist ein kleines Dorf in Andhra Pradesh. Armut und Hunger gehören zu ihren traurigen Kindheitserinnerungen.
Heute ist Mary die „rechte Hand“ von Mrs. Ebenezer. Ihr Mann ist Buchhalter in der Besoldungsstelle der Armee. Kennengelernt haben sich die beiden unmittelbar vor der Hochzeit. Eigentlich diente das erste Treffen nur dazu, daß sich der Mann die Frau ansah, die er heiraten sollte, um zu prüfen, ob sie ihm gefällt. Umgekehrt wird die Frau nicht gefragt, was sie vom Mann hält.
Mary macht auf uns keinen unglücklichen Eindruck. Sie verkörpert als berufstätige Frau das neue Indien. In anderer Hinsicht aber ist sie alten Traditionen verpflichtet. Ihr christlicher Glaube hilft ihr, diese nicht einfache Gratwanderung zu bewältigen.
Hilfe für Leprakranke
Wir verlassen Hyderabad mit einer kleinen Propellermaschine. Unser Flug geht bei herrlichem Wetter nach Vijayawada in Andhra Pradesh. Wir kommen in eine Gegend, in die es kaum noch Touristen verschlägt. Auf den ersten Blick erscheint die Not auf dem Lande in den kleinen Dörfern und Städtchen nicht ganz so schlimm wie in den großen Städten.
Das liegt ganz einfach daran, daß die Menschen nicht auf so engem Raum zusammen gepfercht leben. Ihre Not jedoch ist mindestens ebenso hoffnungslos wie in den Slums.
Die Landwirtschaft kann längst nicht alle Menschen ernähren, die auf dem Land leben.
Die Verdienstmöglichkeiten sind spärlich, die medizinische Versorgung erbärmlich. Andhra Pradesh hat allein 800000 Leprakranke. Insgesamt zählt man in Indien 4 Millionen. Bei rechtzeitiger Erkennung und gezielter medikamentöser Behandlung ist Lepra heute mühelos zu heilen.
In Andhra Pradesh jedoch bedeutet diese Krankheit für die meisten Betroffenen ein Leben im totalen Abseits. Sobald die ersten Verstümmelungen sichtbar werden, beginnt die Isolation von der Familie, von jeglicher Gemeinschaft. Schnell sind dadurch nicht nur die äußeren Gliedmaßen verstümmelt, sondern auch die Seele der Erkrankten.
Ein Deutscher, der auf dieses Elend gestoßen ist, hat sich zur Aufgabe gemacht, zu helfen: Dr. Heinz-Horst Deichmann. Der Facharzt für Orthopädie ist Deutschlands größter Schuhverkäufer. Rund 400 Schuhgeschäfte zwischen Flensburg und München schaffen die finanzielle Basis für das soziale und medizinische Engagement Deichmanns in Südindien.
Über eine von ihm gegründete Hilfsorganisation (AMG – Allgemeine Missions – Gesellschaft) werden Lepradörfer, Hospitäler, Schulen oder Bewässerungsanlagen in Andhra Pradesh finanziert. Deichmanns Motivation für diesen Einsatz kommt aus dem christlichen Glauben. Das spüren wir in Chengiskanpet, dem ersten Lepradorf der AMG, das etwa zweieinhalb Autostunden von unserem kleinen Flugplatz in Vijayawada entfernt liegt. Der Empfang mit bunten Blumenketten ist herzlich.
Die Dorfanlage besteht aus einer Häusersiedlung, einem kleinen Hospital, einer Apotheke und einer Kindertagesstätte. Die arbeitsfähigen Dorfbewohner sind in der Landwirtschaft – zu der auch eine Viehzucht gehört – beschäftigt. Angebaut wird Obst, Gemüse und Baumwolle. Im Dorf gibt es darüberhinaus eine Schreinerei, eine Weberei und eine Nähstube. Eines Tages sollen die Ernteerträge und die Verkaufseinnahmen der anderen Produkte das Dorf versorgen.
Die Verstümmelungen der Menschen, denen wir hier begegnen, sind teilweise grauenhaft. Mir geht angesichts der Kranken eine Äußerung Deichmanns durch den Kopf:
„Man muß diese Menschen berühren, um ihnen zu zeigen, daß ihr Leiden kein Fluch der Götter ist.“ Wie schwer ist es, dies in die Tat umzusetzen. Es kostet Überwindung, aber es macht froh. Das empfinde ich, als einer der Pfleger meinen Arm um einen völlig entstellten alten Mann legt.
Sinnvolle und effektive Hilfe wird in diesem Dorf geleistet. Die „Aussätzigen“ werden geheilt oder gepflegt, beschäftigt, ausgebildet, zur Selbständigkeit geführt. Vor allem aber werden sie geliebt. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Dieses Wort Christi aus dem Matthäusevangelium wird hier in die Tat umgesetzt. Tätige Nächstenliebe bleibt keine leere Formel.
Bombay: die heimliche Liebe der Inder
Unsere letzte Station ist Bombay – das „Manchester des Ostens“. Elf Millionen Menschen leben in der Hafenstadt, deren alte Prunkbauten an die englische Kolonialzeit erinnern. Bombay ist der Traum vieler Inder. Bombay hat seine Anziehungskraft noch nicht verloren.
Obwohl die Hälfte aller Einwohner in Hütten aus Wellblech und Pappkartons lebt und eine halbe Million Menschen überhaupt kein Dach über dem Kopf hat, sowohl die hygienischen Verhältnisse katastrophal sind und auf ca. 300 Menschen ein Wasserhahn kommt, obwohl der Geräuschpegel bei 67 Dezibel weit über dem liegt, was die Weltgesundheitsorganisation noch für vertretbar hält (55 Dezibel) – Bombay bleibt die heimliche Hauptstadt des Subkontinents. Bombay bleibt die heimliche Liebe der Inder.
Es gibt genügend Beschreibungen dieser Stadt, die so viele ganz verschiedene Gesichter hat. Ich möchte mich abschließend jedoch nur auf ein Erlebnis beschränken, das ich wohl nie vergessen werde. Mit dem Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde Bombay fuhren wir an einem Abend in das Prostituiertenviertel der Stadt. Was ich dort sah, vermittelte mir den Eindruck der „Hölle auf Erden“.
Auch hier wimmelt es von Menschen jeden Alters. In den Häusern, die eher Käfigen gleichen, Tür an Tür eine Gruppe von Mädchen. Grell geschminkt, in bunte Saris gehüllt, von einer „Puffmutti“ beaufsichtigt, hocken sie beieinander in Erwartung ihrer Freier. Im Hintergrund meist ein Etagenbett nur mit Wolldecken verhängt. Zwischen Prostituierten und Freiern toben kleine Kinder. Vor den Türen auf dem Bürgersteig vollzieht sich das übliche Straßenleben: Menschen lagern auf Decken, dazwischen Betten, Feuerstellen, Händler, Hunde, Musik, Geschrei, Gestank – ein einziges Chaos.
Für viele Kinder sieht so das Zuhause aus. Ihre Mütter kamen vom Lande, wurden von dort mit großen Versprechungen weggelockt oder auch von ihren Familien an einen Zuhälter verkauft. Im Kampf ums Überleben bleibt ihnen nur eine einzige Möglichkeit: ihren Körper gegen Geld anzubieten. Viele bekommen nicht mehr als 10 Rupien von einem „Klienten“.
Diese Einnahmen decken nicht die Ausgaben ihres Lebens. Darum sind die Mädchen oft hoch verschuldet und – noch abhängiger von ihren Zuhältern. Nichts gehört ihnen, nichts bleibt bei ihnen, alles wechselt – nur ihre Kinder gehören ihnen ganz allein. Darum hängen sie sehr an ihrem Nachwuchs, obwohl sie ihnen nichts bieten können als das Elend im Prostituiertenmilieu. Priti Pai, eine 24jährige indische Sozialarbeiterin, kämpft gegen die Not der Kinder, die hier leben müssen und von der Gesellschaft verachtet werden wegen des Berufes der Mutter. Auch das erscheint angesichts von 10000 Prostituierten, die mit ihren Kindern in diesem Viertel leben, wie ein Tropfen auf den heißen Stein.
Diesen Eindruck aber wird man bei allen sozialen Projekten in Indien niemals los. Eine generelle Lösung des Elends wird es wohl nicht geben können. Nur dem einzelnen kann hier geholfen werden.