WELT am SONNTAG, 14. Dezember 1986
Elisabeth Motschmann schreibt über die Schwierigkeiten der Kinder in einer zunehmend „vaterlosen“ Gesellschaft
Von E. MOTSCHMANN 37,7 Sekunden pro Tag widmet sich ein Vater im Durchschnitt seinem einjährigen Kind. Das fand der amerikanische Soziologe Uri Bronfenbrenner heraus. Methode und Genauigkeit solcher Statistiken kann man bezweifeln, nicht aber die Tatsache, daß sich viele Väter erschreckend wenig um ihre Kinder kümmern. 41 Prozent der Väter halten es nach einer jüngsten deutschen Studie für nicht erforderlich, den Müttern bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Sie meinen, es reiche, die „Rahmenbedingungen“ zu schaffen, also das Geld zu verdienen. Trotz mancher Ausnahmen, die hoffen lassen, halten die meisten Männer Erziehung für „Frauensache“.
Geht etwas mit den Sprößlingen schief, hat man sich angewöhnt, grundsätzlich der Mutter die Schuld dafür anzulasten.
Seit Jahren wird denn auch über die negativen Folgen diskutiert, wenn Kinder auf ihre Mütter verzichten müssen. Alle Verhaltensstörungen der Kinder – und sie nehmen weiter zu -‚ werden davon abgeleitet. Warum eigentlich redet kaum einer von den Konsequenzen eines permanenten Verzichts auf den Vater?
Schon vor über 20 Jahren klagte Alexander Mitscherlich in seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ über den Verfall der Vaterrolle, über den für viele Kinder „unsichtbaren“ Vater, über die „Entfremdung“ zum Vater.
Auch die Uelzener Psychagogin Christa Meves warnte bereits 1975: „Die häufige Abwesenheit des Vaters von der Familie… erschwert heute die Identifikationsmöglichkeiten des kleinen Jungen mit seinem Vater.“
Studien haben ergeben, daß „vaterlos“ aufwachsende Jungen zum Beispiel zu „Persönlichkeitsstörungen“ neigen, daß sie ein „geringeres Vertrauen zu sich selbst und zu anderen“ haben und in ihrer „psychosozialen Entwicklung“ beeinträchtigt sind. Außerdem neigen sie „häufiger zu Regelverletzungen in der Schule“, besitzen ein „weniger differenziertes Urteilsvermögen“ und verhalten sich „aggressiver“ als Kinder, um die sich der Vater aktiv kümmert.
Heute hat sich der Zeitgeist allerdings ganz neuen Parolen verschrieben. Da heißt es etwa:
„Väter können gute Mütter sein“ oder sogar „bessere Mütter“. Immer lauter wird vor allem aber nicht nur von Feministinnen der „Rollentausch“, das Dasein des „Hausmannes“ propagiert.
Dies sind hilflose Versuche, die Welt auf den Kopf zu stellen. Väter, die versuchen, „gute Mütter“ zu sein, sind keine guten Väter mehr. Was heißt denn verantwortungsbewußte aktive Vaterschaft?
1. Väter sollten sich Zeit nehmen für die Kinder. Das bedeutet ein Eindämmen ihres Freizeit-Egoismus. Zu viele Vereine und (Ehren)-Ämter sowie Fernsehen, Fußballplatz und Kneipe sind die gefährlichsten Gegner gelebter Vaterschaft.
2. Kinder brauchen Liebe, Geborgenheit und Schutz vom Vater. Sie möchten von ihm an die Hand genommen werden, mit ihm die Welt entdecken und erobern.
Das Vorbild des Vaters prägt das Kind ebenso wie das der Mutter. Kinder können nur das Selbstbewußtsein, Charakter und Persönlichkeit entwickeln, wenn ihnen der Vater als verläßliche und starke Persönlichkeit entgegentritt. Dies erst ermöglicht ihnen, sich zu identifizieren oder zu distanzieren.
Darum brauchen wir keine verweichlichten, feminisierten Väter, die krampfhaft versuchen, „mütterlich“ zu sein, sondern Väter, die ihre Rolle ernst nehmen.
3. Der Vater hat die Aufgabe, dem Kind den „Zusammenhang von Schuld und Sühne“ (Hans-Rudolf Müller-Schwefe) nahezubringen. Das bedeutet schlicht: Väter müssen – wenn erforderlich – auch strafen. Väter, die dies nicht wagen, sind Schwächlinge. Wer seinen Kindern alles durchgehen läßt, macht sie untüchtig. Wer sie allerdings zu hart straft, erzieht sie zu Rebellen.
Ein Kind, das den Vater als liebenden Vater erfahren hat, verkraftet auch den strafenden. Vorausgesetzt, die Strafe ist verhältnismäßig und einsehbar. Schläge sind damit niemals gemeint, sondern Festigkeit und Konsequenz.
Wer dies als Binsenweisheiten abtut, verkennt, daß auf dem Altar des Zeitgeistes und aus blanker Bequemlichkeit viel echte Väterlichkeit geopfert wurde.
Die heute festzustellende Vater-Verlassenheit hat übrigens auch dazu geführt, daß der Glaube an Gott-Vater in weiten Kreisen immer mehr schwindet. Die Demontage der Autorität des irdischen Vaters wurde zur Demontage der Autorität des himmlischen.
Dieser Entwicklung kann man sicherlich nicht mit dem heute so modischen Ruf nach einer „neuen Väterlichkeit‘ begegnen.
Die Krise der Väterlichkeit hat nicht darin ihre Wurzeln, daß Väter zu früh ihre Autorität verlieren. Sie liegt darin begründet, daß sich die Väter nicht genug um ihre Rolle kümmern und daß sie ihre Autorität nicht nutzen, solange sie diese haben.