Offener Brief an den Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky

Bremen, den 4. September 2010

Lieber Herr Buschkowsky,

der Berliner Zeitung von heute (04.09.2010) entnehme ich, dass Sie die Kindergartenpflicht für Einjährige fordern. Damit gehen Sie noch weiter als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der ohne Zeitangabe eine Kita-Pflicht vorschlägt. Diese Forderung kann man nur entschieden ablehnen. Kinder sind nicht Eigentum des Staates. Der Staat hat kein Recht, Kinder schon im ersten Lebensjahr zwangsweise in seine Obhut zu nehmen. Das Grundgesetz (Art. 6,2) spricht eine klare Sprache: „ Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Und weiter heißt es (Art. 6,3): „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungs-berechtigten versagen oder wenn Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“

Es befremdet schon, dass ein Demokrat, wie Sie es doch sind, einen Grundrechtsartikel einfach zur Disposition stellt. Bei allem Verständnis für die vielen Problemfamilien in Ihrem Stadtteil, dürfen wir nicht alle Familien über einen Kamm scheren. Die Probleme in Berlin-Neukölln gibt es auch in meiner Heimatstadt Bremen und in vielen anderen Stadtteilen und Orten der Republik. Dennoch ist es falsch, von dieser Situation Rückschlüsse auf die Mehrheit der Bevölkerung oder der Eltern zu ziehen.

Die überwältigende Mehrheit der Eltern in unserem Land kümmert sich liebevoll um ihre Kinder und lässt sie nicht verwahrlosen. Die Mehrheit der Kinder in unserem Land droht nicht zu verwahrlosen. Die Mehrheit der Eltern möchte frei entscheiden, wie sie ihre Kinder in den ersten Lebensjahren betreuen und erziehen. Darum kann es nicht richtig sein, dass die Bewältigung der Probleme der Migranten zum Maßstab für den staatlichen Umgang mit der Mehrheit der Bevölkerung wird. Wenn das der Weg wäre, dann würden die Ängste derjenigen geschürt, die eine Überfremdung unseres Landes fürchten. Wollen Sie Thilo Sarrazins These: „Deutschland schafft sich ab“ dadurch bestätigen, dass Sie nur noch die Migranten im Blick haben? Ich möchte das nicht!

Es ist nicht zu viel verlangt, wenn wir erwarten, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund in unser Land und seine Lebenswirklichkeit einfügen. Dazu gehört zuallererst das Erlernen der deutschen Sprache.
Sie begründen Ihre Forderung damit, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten wegen der hohen Geburtenrate in großer Zahl ohne ausreichende Chancen auf Bildung und Integration heranwachsen. Glauben Sie wirklich, sehr geehrter Herr Bürgermeister, dass die Kita-Pflicht ab dem ersten Lebensjahr dieses Problem beheben würde?
Neben der Bildung gibt es noch einen anderen Wert, der für unsere Kinder von elementarer Bedeutung ist: ihre emotionale Entwicklung, auf die Eltern ganz individuell eingehen möchten. Lassen Sie den Eltern im Hinblick auf die Erziehung ihrer Kinder bitte die Wahlfreiheit. Eltern wissen in aller Regel am allerbesten, was für ihre Kinder das Beste ist. Eltern können und wollen selbst entscheiden, wann sie ihre Kinder in staatliche Institutionen bringen. Nur weil ein Teil der Eltern aus „bildungsfernen Schichten“ dies nicht weiß oder nur unzureichend weiß, können Sie doch nicht im Ernst allen Eltern schon im ersten Lebensjahr eine Kita-Pflicht auferlegen.
Ich mache mich auch zur Sprecherin all der Eltern in unserem Land, die ihre Kinder als Geschenk Gottes ansehen. Kinder sind uns anvertraut und es gibt viele Eltern, die die Erziehung in der Verantwortung vor Gott und den Menschen wahrnehmen möchten. Diese Eltern können und dürfen sie nicht zwingen, ihre Kinder ab dem ersten Lebensjahr in staatliche Institutionen zu geben.

Auch uns Politikern haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine Verfassung mit auf den Weg gegeben, in der diese „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ wichtiger Bestandteil der Präambel ist. Für mich bleibt diese Position ein unentbehrlicher Kompass für mein politisches Handeln. Darum schreibe ich Ihnen diesen offenen Brief. Da Ihre Forderung öffentlich ist, reagiere ich ebenfalls öffentlich.

Mit freundlichem Gruß

Elisabeth Motschmann, MdBB