Rhein-Zeitung, Koblenz, 6.August 2003, Seite 2
Gastbeitrag über die Wiederentdeckung von Sekundärtugenden
Ordnung, Höflichkeit, Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit: Wie wichtig sind sogenannte Sekundärtugenden für junge Menschen? Gastautorin Elisabeth Motschmann greift in ihrem folgenden Beitrag eine Diskussion über „alte neue Werte“ auf, die der Bremer Bildungssenator angestoßen hat.
Viele unserer Schüler sind „unhöflich, unpünktlich, schlampig“. Mit diesen Worten sprach der Bremer Bildungssenator Willi Lemke aus, was viele denken. Mutig kritisiert er die Umgangsformen von Schülern, mangelnde Disziplin an den Schulen, die Kleidung der Mädchen („Sexbomben“ unter den Schülerinnen) und fordert respektvolleres Verhalten gegenüber Gleichaltrigen und Älteren. Zeitgleich mit dieser Klage eines prominenten SPD-Politikers über die Verstöße von Schülern gegen die „Grundregeln des Zusammenlebens“ titeln große Magazine und Tageszeitungen: „Die neuen Werte: Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie“ oder „Das bürgerliche Wertegerüst erlebt eine Renaissance“.
Diskussion nicht neu
Neu sind die eingeforderten Werte ganz sicher nicht. Auch die Diskussion über verlorene Werte ist nicht neu. Im Gegenteil: Spätestens seit dem Angriff der 68er-Bewegung auf das Wertefundament unserer Gesellschaft („Macht kaputt, was Euch kaputtmacht!“) gab es ungezählte Publikationen und Diskussionen, die sich gegen den Werteverfall zur Wehr setzten. Geführt wurde diese Gegenbewegung von den Konservativen in Politik und Medien. Leider gab es auf der anderen Seite zu viele Intellektuelle, Pädagogen, Professoren und Medienvertreter, die das Hinterfragen aller Werte propagierten und praktizierten. Das wiederum hatte zur Folge, dass eine ganze Elterngeneration eingeschüchtert schwieg, wegsah oder resignierte: „Die Jugend ist heute eben anders.“
Das Ergebnis liegt nun vor. Das Erschrecken ist allerorten groß. Das Ruder soll herumgerissen werden. Nicht die Konservativen fordern diesmal die Kehrtwende. Nein, jetzt sind diejenigen an die Diskussionsfront getreten, die bisher viel Verständnis für die 68er- Bewegung zeigten und die Gefahren des Werteverfalls verkannten. Dies ist das Neue an der alten Diskussion. Daraus könnte sich eine große Koalition für die Werte ergeben. Und das ist positiv.
Was ist zu tun, um diese Entwicklung voranzubringen?
Erstens: Es hat wenig Sinn, alte Rechnungen zu begleichen. Die Schäden, die die 68er-Bewegung hinterlassen hat, sind hinreichend analysiert und sie sind inzwischen für jedermann erkennbar. Darum ist es effektiver, nach vorne zu blicken anstatt zurück
Zweitens: Um Kinder und Jugendliche zu bewahren vor Enttäuschungen, Bindungsangst, vor seelischer Verwahrlosung und anderen psychischen Schäden, müssen Eltern und Lehrer zur Vermittlung von Werten ermutigt werden. Gemeint sind Werte wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Kameradschaft, Treue, Ehe, Familie. Dabei gilt die Regel: Das gelebte Vorbild ist die beste Gewähr für jede Wertevermittlung.
Nicht die Konservativen fordern diesmal die Kehrtwende. Nein, jetzt sind diejenigen an die Diskussionsfront getreten, die bisher viel Verständnis für die 68er-Bewegung zeigten und die Gefahren des Werteverfalls verkannten.“
Drittens: Um die Gesellschaft zu bewahren vor erheblichen volkswirtschaftlichen Verlusten beziehunsgweise Schäden, müssen Werte wie Fleiß, Disziplin und Leistung, Ordnung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit wieder in der Erziehung ihren festen Platz bekommen. Nur so wird man die Ursachen für „Blaumachen“, Sozialmissbrauch, Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug etc. langfristig wirksam bekämpfen können.
Viertens: Um dem Grundsatz „Wehret den Anfängen!“ Rechnung zu tragen, müssen Kinder und Jugendliche lernen, dass jede Form von verbaler und physischer Gewalt kein Mittel zur Konfliktlösung ist. Auch hier ist das gelebte Beispiel unverzichtbar. Schlagende Eltern fördern die Gewaltbereitschaft ihrer Kinder.
Fünftens: Indem Kindern und Jugendlichen in Elternhaus und Schule klare, verbindliche Grenzen für ihr Handeln gesteckt werden, schafft man die notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz und Annahme von Werten.
Strafen kein Tabu
Sechstens: Angemessene Strafen für unangemessenes, undiszipliniertes Verhalten sind Hilfe zur Orientierung und nicht autoritäre Relikte aus vergangenen Zeiten. Die Tabuisierung von Strafen muss aufhören.
Siebtens: Für den Erfolg der Wertevermittlung gilt eine Grundvoraussetzung: Zeit haben für unsere Kinder. Kinder müssen nicht verwöhnt werden mit Geld, „Designerklamotten“ oder anderen Luxusgütern, sondern mit Zeit, Zuwendung, Liebe und Geborgenheit. Diesen Luxus können sich alle Eltern leisten – unabhängig vom Geldbeutel.
Es ist schon erstaunlich, dass gerade aus Bremen der Ruf nach einer Rück- und Neubesinnung auf verlorene Werte kommt. Dieser Ruf ist jedoch besonders authentisch, denn er beruht auf Erfahrungen, die Willi Lemke als Bildungssenator gesammelt hat. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass die Hansestadt sich in einem faszinierenden Wandlungsprozess befindet.
Unsere Gastautorin
Elisabeth Motschmann, geboren 1952 in Lübeck, studierte Theologie, Pädagogik und Romanistik. Seit 1991 ist sie Mitglied der Bremer Bürgerschaft. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der CDU Bremen und Staatsrätin beim Senator für Inneres, Kultur und Sport.